CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Durchführung einer i.v.-Regionalanästhesie durch Nicht-Anästhesisten führt zum Krampfanfall
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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Durchführung einer i.v.-Regionalanästhesie durch Nicht-Anästhesisten führt zum Krampfanfall
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten:
Krankenhaus - OP
Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag
ASA Klassifizierung:
ASA I
Fallbeschreibung:
Aufgrund eines hohen Krankenstandes der Anästhesieabteilung konnten mehrere OP-Säle anästhesiologisch nicht besetzt werden. Eine chirurgische Abteilung entschloss sich daher dazu, einen kleineren Eingriff am Unterarm statt in geplanter Allgemeinanästhesie eigenständig in Bierscher Venenanästhesie durchzuführen, ohne die Anästhesieabteilung zu beteiligen.
Nach Auswickeln der Extremität und Aufblasen der Staumanschette wurden 40 ml Ropivacain 0,75% in die Venen des Armes injiziert. Kurz darauf berichtete der Patient über einen metallischen Geschmack im Mund. Angesichts einer zunehmenden motorischen Unruhe des Patienten entschied sich der Chirurg, die Operation abzubrechen und öffnete das am Arm anliegende Tourniquet. In unmittelbarer Folge kam es zum Bewusstseinsverlust des Patienten mit generalisiertem tonisch-klonischen Krampfanfall.
Der hinzugerufene Bereichsoberarzt der Anästhesie erkannte die Lokalanästhestikaintoxikation prompt, verabreichte Sauerstoff sowie Midazolam und alarmierte parallel einen weiteren anästhesiologischen Oberarzt mit Bitte sofort eine Lipidinfusion als "Lipid Rescue" in den Saal zu bringen.
20% Lipidinfusion wird im Haus an jedem Einleitungsplatz vorgehalten, so auch unmittelbar vor dem betroffenen OP-Saal. Es konnte daher ohne Zeitverlust das Notfallprotokoll nach lipidrescue.org initiiert werden: Lipidbolus von 1,5 ml/kg über 1 min, danach kontinuierliche Gabe von 0,25 mg/kg/min. Jeder Lokalanästhetika-Schrank im Haus ist mit diesem Schema beschriftet.
Glücklicherweise kam es nicht zum Auftreten von kardialen Symptomen wie z.B. Herzrhythmusstörungen. Nach titrierender Gabe von insgesamt 20 mg Midazolam i.v. sistierte der Krampfanfall, eine Atemwegssicherung war nicht erforderlich. Der Patient wurde spontanatmend und kreislaufstabil zur Überwachung in den Aufwachraum übernommen. Hier wurde die Lipidinfusion nach 30 min beendet. Im Verlauf einer Stunde erwachte der Patient allmählich und zeigte sich asymptomatisch. Aufgrund des gegebenen langwirkenden Lokalanästhetikums wurde der Patient über Nacht auf die IMC-Station aufgenommen, hier ergaben sich keine weiteren Auffälligkeiten.
Der Fall wurde frei von Schuldzuweisung mit den chirurgischen Kollegen diskutiert und aufgearbeitet. Bei allen Beteiligten konnte Verständnis und Einsicht erreicht werden. Große Erleichterung des gesamten Teams, dass jeglicher Schaden abgewendet werden konnte.
Was war besonders gut?
Unmittelbares Alarmieren der Anästhesie bei eingetretener Komplikation. Erkennen des Problems durch anästhesiologischen Oberarzt. Sofortiges Hinzuziehen eines weiteren Oberarztes. Strukturiertes Vorgehen nach ABCDE. Teamwork der Anästhesiekollegen. Vorhalten von Lipidinfusion in jeder Einleitung inklusive vorhandener Beschriftung aller Lokalanästhetika-Schränke mit dem Notfallprotokoll. Dadurch gute Kenntnis des Infusionsschemas bei allen Mitarbeitern. Aufarbeiten des Falles gemeinsam mit den chirurgischen Kollegen.
Was war besonders ungünstig?
Hoher Krankenstand der Anästhesie. Durchführen der Bierschen Venenanästhesie ohne Betei-ligung der Anästhesieabteilung. Verwendung eines langwirkenden Lokalanästhetikums mit ge-ringer therapeutischer Breite (Ropivacain). Weniger toxisches und therapeutisch breiteres Pri-locain wäre für den kurzen Eingriff geeignet gewesen. Nichterkennen der Lokalanästhetikainto-xikation durch die Kollegen der Chirurgie. Statt bei Auftreten typischer Symptome den Sitz des Tourniquets zu prüfen und eventuell nachzublocken: Öffnen der Staumanschette mit Auslösen einer schweren systemischen Reaktion.
Eigener Ratschlag (take-home-message):
Schulung aller mit Lokalanästhetika arbeitenden Mitarbeiter über das Krankheitsbild einer Lokalanästhetikaintoxikation. Vorhalten von 20% Lipidinfusion in allen anästhesiologischen Arbeitsbereichen. Gut sichtbares Anbringen des Notfallprotokolls nach Lipidrescue, z.B. auf Schränken mit Lokalanästhetikaampullen. Durchführen von risikobehafteten Regionalanästhesien (laut Wissenschaftlichem Arbeitskreis Regionalanästhesie insbesondere auch Biersche Venenanästhesie) nur durch Anästhesisten.
Wie häufig tritt ein Ereignis dieser Art in Ihrer Abteilung auf?
nur dieses Mal
Wer berichtet?
Ärztin / Arzt
Berufserfahrung:
über 5 Jahre
Die Analyse aus Sicht des Anästhesisten
Bei der intravenösen Regionalanästhesie (Bierscher Block) handelt es sich um ein sehr altes Anästhesieverfahren, welches den Charme hat, dass die Durchführung technisch sehr einfach und die Erfolgsrate sehr hoch ist. Auch wenn die Technik grundsätzlich an jeder Extremität angewendet werden kann, wird sie meist nur bei kurzen Eingriffen an einer oberen Extremität durchgeführt. Die Einfachheit des Verfahrens hat die Chirurgen dazu verleitet, wegen eines Personalengpass auf die Assistenz der Anästhesieabteilung zu verzichten. Für den Eingriff war ursprünglich eine Allgemeinanästhesie geplant gewesen, weshalb sicher auch die Thematik Aufklärung diskussionswürdig ist. Hierauf wird näher in der juristischen Analyse eingegangen, ebenso wie auf die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen eine Anästhesie durch einen Nicht-Anästhesisten durchgeführt werden darf.
Der/die Meldende berichtet sehr ausführlich und detailliert, so dass jeder/jede Anästhesist/Anästhesistin sofort die medizinischen Fehler erkennt (erkennen sollte), die die chirurgischen Kollegen gemacht haben. Uns liegt aber fern, die Fehler zu verurteilen, sondern wollen uns mit den Lernbotschaften beschäftigen. Schließen werden wir die anästhesiologische Analyse mit persönlichen Erfahrungsberichten, die veranschaulichen sollen, dass Überheblichkeit nie angebracht ist.
Beenden des Tourniquets
Diese Kurzanalyse soll kein Lehrbuch ersetzten, sondern wir empfehlen das Studium der Webseite der New York Society of Regional Anesthesia (NYSORA) [1], die einen sehr guten Überblick zu der Technik des Bierschen Blocks gibt. Thematisiert werden dort fast alle wesentlichen Aspekte, vom historischen Hintergrund, über den Wirkmechanismus, die Indikationen, die erforderliche Ausrüstung, die technische Durchführung, die Wahl der Lokalanästhetika bis hin zu den Komplikationen. Der Abschnitt, der sich mit dem Beenden des Tourniquets befasst, zitieren wir (fast) wörtlich:
„1. Das Tourniquet darf erst abgelassen werden, wenn seit der Injektion des Lokalanästhetikums mindestens 30 min vergangen sind. Dies gilt auch, wenn die Dauer des chirurgischen Eingriffs kurz war. In einem solchen Fall ist es akzeptabel, den Patienten mit anliegendem Tourniquet aus dem Operationsbereich in die postoperative Überwachungseinheit zu verlegen und dort das Verstreichen der 30-min-Periode abzuwarten. Nach dem Lösen des Tourniquets sollte der Patient mindestens 15 min lang kontinuierlich überwacht werden.
2. Das Ablassen des Tourniquets sollte „zyklisch“ erfolgen: Hierzu wird die Manschette nach Verstreichen der 30 min entleert und sofort wieder aufgepumpt. Der Patient wird anschließend sorgfältig auf das Auftreten von Toxizitätszeichen von Lokalanästhetika hin (Tinnitus, Benommenheit, metallischer Geschmack im Mund, usw.) beobachtet oder befragt. Falls nach ca. 1 min keine Toxizitätszeichen auftreten, wird die Manschette wieder entleert und erneut für einen Zeitraum von 1 bis 2 Minuten aufgepumpt. Treten weiterhin keine Toxizitätszeichen auf, kann das Tourniquet sicher entleert und von der Extremität entfernt werden. Das Ziel eines solchen zyklischen Ablassens/Wiederaufblasens des Tourniquets besteht darin, jeweils nur einen kleinen Bruchteil des verabreichten (und ungebundenen) Lokalanästhetikums in den systemischen Kreislauf gelangen zu lassen.“
In dem Fall erfolgte das Ablassen des Tourniquets zu früh und die Folge war der tonisch-klonische Krampfanfall. Aus unserer Sicht bestand bei den Chirurgen ein Ausbildungs-/Wissensdefizit. Ihnen waren die Symptome bzw. die Frühzeichen einer akuten Lokalanästhetikaintoxikation nicht bekannt oder nicht präsent. Entsprechend interpretierten sie den Metallgeschmack, den der Patient äußerte, falsch. Sie entschlossen sich, den Eingriff abzubrechen und riefen die Anästhesieabteilung erst nach Beendigung des Tourniquets als der Patient das Bewusstsein verlor und generalisiert krampfte zu Hilfe.
Natürlich liegt die Schlussfolgerung nahe, dass jeder nur die Technik anwenden sollte, in der er ausgebildet wurde, und deren möglichen Komplikationen er erkennt und beherrscht. Wahrscheinlich ist es zulässig, den Chirurgen hier das offensichtliche Ausbildungs-/Wissensdefizit vorzuwerfen. Nach einer von uns durchgeführten, nicht-repräsentativen Umfrage unter Anästhesisten, die die Technik des Bierschen Blocks regelmäßig anwenden, warnen wir allerdings vor Überheblichkeit: Kein einziger Anästhesist gab an, in der Technik ausgebildet worden zu sein, sondern sie sich selber angelesen, sich Tipps von Kollegen eingeholt und dann angewendet zu haben. Niemandem wendete die von der NYSORA beschriebene Technik des zyklischen Ablassens an und nur vereinzelt war sie überhaupt bekannt.
Ropivacain 0,75%
Die beiden am häufigsten verwendeten Lokalanästhetika bei einem Bierschen Block sind Lidocain (vor allem in den USA in der Konzentration 0,25-1%) und Prilocain (vor allem in Europa in der Konzentration 0,5-1%). In dem Fall wurde das mittellang wirkende Lokalanästhetikum Ropivacain verwendet. Tatsächlich gibt es eine Rationale dafür. Es scheint einen Vorteil wegen einer etwas längeren Wirkungsdauer zu haben, die sich auch auf die postoperative Phase ausdehnt [2]. Bei der Verwendung von Lidocain und Prilocain stellt sich der Schmerz hingegen fast unmittelbar nach Ablassen des Tourniquets ein.
Ein wichtiger Faktor für den Erfolg eines Bierschen Blocks ist die Gabe eines ausreichend hohen Volumens. Typischerweise werden deshalb (30-) 40 (-50) ml injiziert. Dieses Volumen wurde auch in diesem Fall verwendet, aber die Konzentration des Lokalanästhetikums war zu hoch. In der Literatur finden sich nur Daten zu Ropivacain 0,2-0,25% und nicht zu Ropivacain 0,75%. Die Wahl dieser hohen Konzentrationen hatte 2 Folgen: Es kam trotz anliegendem Tourniquet zu Toxizitätszeichen und nach dem zu frühen Ablassen des Tourniquets entwickelte der Patient einen tonisch-klonischen Krampfanfall.
Das Konzept der Höchstdosierungen von Lokalanästhetika ist umstritten [3]. Wichtiger als die absolute Menge ist die Art der Injektion (langsam versus schnell), der Injektionsort (langsame versus schnelle Resorption) und sind Patientenfaktoren (Geschlecht, Gewicht, Plasmaeiweißspiegel, etc.). In der Literatur finden sich deshalb auch unterschiedliche Mengenangaben für Ropivacain, aber keine geht über 250 mg hinaus. In dem Fall erhielt der Patient aber 300 mg.
Was war die Ursache? Aus unserer Sicht kommen 2 Aspekte in Frage: Erstens kann es sich wieder um eine Folge des bereits erwähnten Wissens-/Ausbildungsdefizits handeln. Ein anderer Grund scheint uns aber wahrscheinlicher: Ropivacain-Verpackungen unterscheiden sich von anderen Lokalanästhetika-Verpackungen, weil sie mit steriler Umverpackung industriell angeboten werden. Diese kluge Marketingidee hat dazu geführt, dass das Präparat Einzug in die OP-Säle gefunden hat. Vielen operativen Kollegen und manchem Anästhesisten sind aber die Unterschiede zwischen den Lokalanästhetika (Höchstdosierungen, Wirkdauer, Umrechnung % in mg, etc.) nicht geläufig und Ropivacain wird angewendet, wie man es von Lidocain gewohnt ist. Zusätzlich ist Ropivacain in 3 verschiedenen Konzentrationen erhältlich: 0,2%, 0,75% und 1%. Die Ampullen sehen sehr ähnlich aus (look-alike), so dass die Verwechslungsgefahr groß ist. Die Wahrscheinlichkeit ist daher hoch, dass „jemand“ (die anreichende Assistenzkraft, der Operateur) versehentlich die falsche Ampulle verwendet hat.
Medikamentenverwechslungen lassen sich nie zu 100% vermeiden, aber ein bekannter beitragender Faktor ist die Bevorratung. So sind viele Anästhesieabteilungen dazu übergegangen, im OP-Saal nur Ropivacain 0,2% vorzuhalten. Höher prozentige Lösungen müssen bei Bedarf von einem anderen Bevorratungsschrank geholt werden. Aus unserer Sicht gibt es kaum einen Grund Ropivacain 0,75% oder 1% im OP-Saal griffbereit zu haben. Eine weitere Konsequenz wäre daher, die jetzige Bevorratung zu überprüfen und ggf. zu verändern.
Klinische Frühzeichen der Neurotoxizität trotz anliegendem Tourniquet
Der Patient entwickelte trotz anliegendem Tourniquet nach Injektion des Lokalanästhetikums ein klassisches Frühsymptom der Neurotoxizität. Dies veranschaulicht, dass ein Tourniquet nie ein vollständiges Sistieren des Blutflusses erreichen kann, so lange ein intakter Röhrenknochen innerhalb des Tourniquets liegt. Bekanntermaßen ist der venöse Abfluss über die Röhrenknochen sehr gut und der i.o.-Zugang deshalb ein guter Zugangsweg im Notfall. Der venöse Abfluss über den Röhrenknochen ist zum einen der Grund, warum ein Bierscher Block nur eine begrenzte Wirkungsdauer haben kann und erklärt in dem Fall auch das Auftreten der neurotoxischen Symptomatik trotz anliegendem Tourniquet. Auf Grund der Gabe von zu viel Ropivacain gelangte eine relevante Wirkstoffmenge über den persistierenden Blutfluss im Humerus in den systemischen Kreislauf.
Stellenwert Lipid Rescue
Es liegt auf der Hand, dass nie eine große klinische Studie am Menschen durchgeführt wurde, die die Wirksamkeit der Gabe einer Fettemulsion bei schweren Intoxikationen mit einem Lokalanästhetikum überprüft hat. Gleichzeitig existieren aber zahlreiche Fallberichte, die von einem erfolgreichen Einsatz berichten. Der genaue Wirkungsmechanismus ist noch nicht geklärt und es werden Faktoren wie Bindung von freiem Lokalanästhetikum im Serum (lipid sink theory) oder auch intrazelluläre Angriffspunkte an den Ionenkanälen oder im Bereich der Mitochondrien diskutiert. Der wichtigste Pionier auf dem Gebiet, Dr. Guy Weinberg, betreibt eine Webseite, die einen sehr guten Überblick über den aktuellen Stand der Forschung und die Studienlage gibt [4]. Auf dieser Webseite werden auch von anderen, nicht durch Lokalanästhetika verursachten Intoxikationen berichtet, die erfolgreich mit einer Fettemulsion behandelt wurden.
Aber unabhängig von dem noch rudimentären Wissen über den genauen Wirkmechanismus, sprechen die publizierten Fallberichte für eine Gabe einer Fettemulsion im Notfall. Die Nebenwirkungen dieser Notfalltherapie sind vernachlässigbar, Kontraindikation existieren praktisch keine. Alle großen anästhesiologischen Fachgesellschaften haben entsprechend eindeutige Empfehlungen herausgegeben (für Deutschland [5]). In dem meldenden Krankenhaus wurden diese vorbildhaft umgesetzt. Hervorzuheben sind insbesondere, das Vorhalten von Lipidinfusion in jeder Einleitung inklusive einer vorhandenen Beschriftung aller Lokalanästhetika-Schränke mit dem Notfallprotokoll.
Erfahrungsberichte
Wir möchten die anästhesiologische Analyse mit 2 Fallberichten schließen, die uns von einem Anästhesisten zugetragen wurden, der selber zweimal einen Bierschen Block erhalten hatte. Die Anlässe waren jeweils kurze handchirurgische Eingriffe – einmal links und einmal rechts. Der Chirurg war stets derselbe, aber die Anästhesisten wechselten. Es handelte sich bei beiden Anästhesisten um erfahrene Kollegen, die bereits seit vielen Jahren in der ambulanten Anästhesie tätig waren.
Erfahrungsbericht 1:
„Nachdem ich mich auf dem OP-Tisch platziert hatte, wurde am Arm der Gegenseite eine Blutdruckmanschette für die automatische Intervallmessung und ein Pulsoxymeter angeschlossen. Am zu operierenden Arm wurde in der Ellenbeuge ein i.v.-Zugang gelegt, anschließend wurde der Arm für die Blutleere ausgewickelt und das Tourniquet angelegt. Der Kollege spritze dann SEHR schnell 40 ml Prilocain 1%. Der Vene brannte sofort wie Feuer. Das Feuer breitete sich rasch Richtung Hand aus und als der Schmerz kaum noch erträglich war, begann das Lokalanästhetika zu wirken. Die OP-Zeit betrug ca. 30 min. Eine EKG-Überwachung fand zu keinem Zeitpunkt statt.“
Erfahrungsbericht 2:
„Bei der zweiten Operation wies ich im Vorfeld den Kollegen auf die fehlende EKG-Überwachung bei der vor-OP hin. Dies war ihm offensichtlich unangenehm. Das EKG-Kabel und die Elektroden wurden daraufhin aus einer Schublade herausgeholt, so dass es offensichtlich nicht zum Standard gehörte. Nachdem ich von dem Injektionsschmerz berichtet hatte, nahm er sich deutlich mehr Zeit für die Injektion und die Schmerzen waren vernachlässigbar. Die OP-Dauer war diesmal deutlich kürzer (ca. 15 min). Vor der letzten Hautnaht wurde das EKG entfernt und dann das Tourniquet abrupt geöffnet. Als ich mitteilte, mir würde ganz komisch werden, wurde dies ignoriert. Ich wurde aufgefordert, mich aufzusetzen und in den Aufwachraum zu gehen. Da ich auf dem kurzen Weg schwankte, wurde ich gestützt. Bei dem Aufwachraum handelte es sich um ein Zimmer mit einer Trage. Eine Monitorüberwachung fehlte und die Tür wurde geschlossen.“
Wir lassen diese beiden Erfahrungsberichte unkommentiert, da sie selbsterklärend sind.
Die Analyse aus Sicht des Juristen
1.
a) Im Ausgangspunkt der juristischen Analyse ist auf § 630a Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zurückzukommen. Demnach hat die Behandlung von Patientinnen und Patienten nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen. Anders formuliert: Bei der Patientenbehandlung muss im Ergebnis die Einhaltung von „Facharztstandard“ bzw. eine Behandlung mit Facharztqualität gewährleistet sein. Solche Behandlungsqualität ist materiell zu verstehen, nicht etwa formell in dem Sinne, dass ein Behandler (bereits) über die entsprechende Facharztanerkennung verfügt. D.h., dass er die konkret anzuwendende Behandlung „theoretisch wie praktisch so beherrscht, wie das von einem Facharzt (des betroffenen Fachgebiets) erwartet werden muss. Dies kann der Arzt einer anderen Fachrichtung sein, aber auch ein approbierter Arzt in Weiterbildung zum Facharzt“ (Steffen, MedR 1995, 360). Insofern war vorliegend nicht per se sorgfaltspflichtwidrig, dass ein Betäubungsverfahren seitens des chirurgischen Fachs angewandt wurde. Ggf. ist jedoch „anästhesiologischer“ Standard einzuhalten. Anderenfalls droht ein sogenanntes Übernahmeverschulden.
b) Laut der Analyse aus Sicht des Anästhesisten ist vorliegend eine Reihe von Standardabweichungen im Sinne von Behandlungsfehlern zu konstatieren.
Offenbar unterliegt die geänderte Indikationsstellung zur stattgehabten intravenösen Regionalanästhesie als solche keiner Kritik (siehe dazu nochmals unten). Anders im Hinblick auf die angewandte Medikation, das Erkennen der eingetretenen Komplikation und der Erstreaktion auf die Komplikation bis zur Hinzuziehung des anästhesiologischen Fachs.
Dergestalt realisierte sich wohl kausal die Komplikation mit Folgen für den Patienten (abnorme körperliche Beeinträchtigungen, Abbruch der in Angriff genommenen operativen Behandlung, weitergehende Behandlungs- und Überwachungserfordernisse bis zum nächsten Tag sowie auch die Notwendigkeit einer neuerlichen operativen Behandlung samt anästhesiologischer Begleitung).
Könnte man nun meinen, das ganze Unternehmen sei für den Patienten doch „glücklich“ ausgegangen, so scheinen die tatbestandlichen Grundvoraussetzungen sowohl für zivilrechtliche Haftung als auch Strafbarkeit, nämlich eine Schädigung des Patienten als kausale Folge einer Sorgfaltspflichtverletzung erfüllt zu sein.
2. Allerdings resultiert noch eine weitere Problemstellung:
a) Seitens der Anästhesie des Hauses war die Indikation zur Allgemeinanästhesie gestellt worden, weshalb zu vermuten steht, dass der Patient auch dahingehend aufgeklärt worden ist, woraufhin er in eine Allgemeinanästhesie eingewilligt hat. Dergestalt hätte eine entsprechende anästhesiologische Eingriffsdurchführung auch Rechtfertigung gefunden. Demgegenüber schweigt der Fallbericht zu Aufklärung und Einwilligung des Patienten betreffend die Anwendung einer intravenösen Regionalanästhesie, weshalb - und zwar unabhängig von den unterlaufenen Behandlungsfehlern - eine rechtswidrige Eingriffsdurchführung mit insoweit per se potentiellen Haftungs- und Strafbarkeitsrisiken zu vermuten steht.
b) Weil in der Analyse aus Sicht des Anästhesisten der stattgehabte „Indikationswechsel“ keiner Kritik unterliegt, sei theoretisch auch Folgendes angesprochen:
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Eventuell waren als anästhesiologische Begleitung zur operativen Behandlung sowohl eine Allgemeinanästhesie als auch eine intravenöse Regionalanästhesie gleichermaßen indiziert, womit Behandlungsalternativen bestanden hätten, worüber gegebenenfalls im Hinblick auf Durchführung, unterschiedliche Belastungen sowie jeweilige Vor- und Nachteile sowie auch Erfolgsaussichten aufgeklärt wurde bzw. hätte aufgeklärt werden müssen. Eventuell hat der Patient die Anwendung einer intravenösen Regionalanästhesie sogar explizit abgelehnt.
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Wurde seitens des anästhesiologischen Fachs präoperativ lege artis aufgrund gehöriger Prämedikation unter individuellen Aspekten bei dem Patienten die Indikation zur Anwendung einer Allgemeinanästhesie gestellt, könnte auch in Betracht kommen, dass schon der Wechsel der Indikation zum Betäubungsverfahren nicht lege artis erfolgt ist.
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Unter beiden vorgenannten Aspekten bot die mangelnde anästhesiologische Besetzung mehrerer OP-Säale keine Rechtfertigung für die Anwendung einer intravenösen Regionalanästhesie.
3. Woraus das individuell mehrfach fehlerhafte Behandlungsagieren vorliegend resultierte, muss – unbeschadet der Erwähnung verschiedener Möglichkeiten in der Analyse aus Sicht des Anästhesisten – letztlich offenbleiben. Den Ausgangspunkt dafür bildete allerdings offenbar die Tatsache, dass mehrere OP-Säale wegen hohen Krankenstandes seitens der Anästhesieabteilung nicht besetzt waren. Das dürfte konkret heißen: Für die vorliegend geplante operative Behandlung stand kein Anästhesist zur Verfügung. Dies betrifft allerdings zudem einen Organisationsaspekt, welcher jedoch nicht zur Exkulpation bezüglich der o.a. Sorgfaltspflichtverletzungen sowie des zu vermutenden Aufklärungs- und Einwilligungsdefizits führt. Tatsächlich verhält es sich nämlich so, dass oftmals Behandlungsfehler im Sinne eines Übernahmeverschuldens mit Organisationsmängeln korrespondieren.
War der hohe Krankenstand in der Anästhesieabteilung den Organisationszuständigen und daraus resultierend -verantwortlichen bekannt? Wurde innerhalb der betroffenen Fachabteilungen sowie gegenüber dem OP-Management bzw. der Klinikleitung auf den Personalmangel mit Konsequenzen für die laufende operative Behandlung von Patienten hingewiesen sowie Abhilfe eingefordert („remonstriert“)? Wurde das personelle Defizit gleichwohl hingenommen? Spielten dabei eventuell auch wirtschaftliche Aspekte eine Rolle?
Auf eine Behandlung mit eingangs erwähntem Facharztstandard bzw. mit Facharztqualität hat der Patient Anspruch, was etwa in einer Klinik allerorts und rund um die Uhr zu gewährleisten ist. Treten Defizite insoweit ein, bedarf dies auch organisatorisch der Reaktion. Das heißt: Auch organisatorisch muss gewährleistet sein, dass „am Patienten“ Facharztqualität geboten werden kann.
So hat auch der BGH immer wieder betont, es gehe „die Sicherheit des Patienten allen anderen Gesichtspunkten vor“ und dürfe insbesondere auch nicht „etwaigen personellen Engpässen geopfert werden“ (so schon BGH NJW 1983, 1375). In einer anderen Entscheidung hat der BGH prägnant formuliert, der Krankenhausträger habe „dafür Sorge tragen müssen, dass in seiner Klinik nur Operationen ausgeführt wurden, die anästhesiologisch ordnungsgemäß betreut werden konnten. Solange er nicht genügend Anästhesisten für seine Kliniken bekommen konnte, hätte er notfalls auf eine Ausweitung der chirurgischen Abteilung verzichten und weiter anordnen müssen, dass nach Erschöpfung der jeweils vorhandenen Kapazität die Patienten an andere Krankenhäuser zu verweisen seien. Jedenfalls aber bedurfte es klarer Anweisungen an die Ärzte, wie bei einem plötzlichen Engpass zu verfahren war“ (BGH NJW 1985, 2189 (2191)).
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Bei einer intravenösen Regionalanästhesie darf das Tourniquet ohne Ausnahme nie vor Verstreichen von 30 min nach der Injektion des Lokalanästhetikums beendet werden. Das Ablassen des Tourniquets sollte zyklisch erfolgen.
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Eine Verwechslung der verschiedenen Konzentrationen von Ropivacain ist wegen eines look-alike Phänomens leicht möglich. Deshalb sollte eine räumlich getrennte Bevorratung der unterschiedlichen Konzentrationen angestrebt werden. Im OP-Saal reicht die Vorhaltung von Ropivacain 0,2% aus.
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Jeder Arzt, der Lokalanästhetika anwendet, muss Kenntnisse über die zwar seltenen aber potentiell lebensgefährlichen Nebenwirkungen bei Überdosierungen oder versehentlicher intravasaler Gabe haben. Werden regelhaft große Mengen verabreicht, ist das Vorhalten eines Lipid Rescue Kits dringend angeraten und wird von allen großen anästhesiologischen Fachgesellschaften empfohlen.
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Grundsätzlich gestaltet sich eine medizinische Eingriffsbehandlung nur auf der Grundlage entsprechender Aufklärung samt Einwilligung des Patienten nicht rechtswidrig.
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Jeder Patient hat stets Anspruch auf eine Behandlung mit Facharztqualität. Dies ist auch zu gewährleisten, wenn Ärztinnen und Ärzte fachgebietsübergreifend tätig werden (wollen).
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Personelle Engpässe erlauben keine Einschränkungen in der Qualität der Patientenbehandlung. Die Sicherheit des Patienten geht allen anderen Gesichtspunkten vor.
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Weiterführende Literatur:
Autoren:
Prof. Dr. med. M. Hübler, Krankenhaus St.-Joseph-Stift, Dresden
Rechtsanwalt R.-W. Bock, Ulsenheimer Rechtsanwälte, Berlin
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten, Nürnberg
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