11.06.2015 |
Stiftung für Patientensicherheit, Schweiz: Paper of the Month #54 – Einfluss von Ablenkungen auf die Rechts-Links-Unterscheidungsfähigkeit
McKinley J, Dempster M, Gormley GJ: ‘Sorry, I meant the patient's left side': impact of distraction on left-right
discrimination
Medical Education 2015; 49: 427-435. doi:10.1111/medu.12658
Thema: Einfluss von Ablenkungen auf die Rechts-Links-Unterscheidungsfähigkeit
Schwierigkeiten, rechts und links zu unterscheiden, sind in der allgemeinen Bevölkerung und auch unter Ärztinnen und Ärzten weit verbreitet. Die Angabe der Seite (rechts/links) spielt im klinischen Alltag eine wichtige Rolle, und Fehler können zu schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen beitragen. Die Rechts-Links-Diskriminierung ist ein komplexer Prozess, insbesondere wenn sich die räumliche Position verändert („mentale Rotation“), z.B. beim Drehen von Röntgenbildern oder bei wechselnder Positionierung des Arztes im Verhältnis zum Patienten während einer körperlichen Untersuchung oder im OP. Da die Rechts-Links-Unterscheidung eine mental anspruchsvolle Aufgabe ist, liegt es nahe, dass sie anfällig für Ablenkungen ist. Umso wichtiger ist es, sie frühzeitig zu trainieren und Schwierigkeiten zu erkennen. McKinley et al. untersuchten die Rechts-Links-Unterscheidungsfähigkeit von Medizinstudierenden unter experimentellen Bedingungen, die verschiedene Ablenkungen involvierten. Dafür wurden 234 Medizinstudierende des zweiten Studienjahrs der Universität Belfast zufällig auf eine von vier Bedingungen verteilt: Rechts-Links-Test ohne Ablenkung; Test un-ter akustischer Ablenkung (voraufgezeichneter, typischer Stationslärm); Test unter kognitiver Ablenkung (zusätzliche klinische Information, die zwischen den Testkapiteln bearbeitet werden musste); Test unter akustischer und kognitiver Ablenkung. Um die Rechts-Links-Unterschei-dung standardisiert zu messen, wurde der Bergen-Links-Rechts-Diskriminierungstest (BLRDT) eingesetzt. Beim BLRDT handelt es sich um ein validiertes psychometrisches Verfahren, in dem bei Strichmännchen jeweils eine Hand markiert werden muss. Die Figuren sind zum Teil von vorn, zum Teil von hinten gezeichnet (Orientierung) und die Position eines oder beider Arme variiert erheblich, z.B. über Kreuz. Unter jeder Figur ist angegeben, ob die linke oder rechte Hand markiert werden soll. Der Test be-steht aus 144 Figuren, die in drei Kapiteln angeordnet sind. Pro Kapitel stehen jeweils maximal 90 Sekunden zur Verfügung. Je richtig beurteilter Figur wird 1 Punkt erzielt (maximal also 144 Punkte). Zudem untersuchten die Autoren, ob die Selbsteinschätzung der Rechts-Links-Unter-scheidungsfähigkeit mit der tatsächlichen Leistung korrelierte, wie gut also die Studierenden sich selber einschätzen konnten. Die Ergebnisse in der Kontrollgruppe (ohne Ablenkung) zeigen, dass die Rechts-Links-Unterscheidungsfähigkeit am schlechtesten für das Testkapitel mit gemischter Orientierung der Strichmännchen war (durchschnittlich 37 von 44 BLRDT-Punkten). Die Ergebnisse der Gruppe mit ausschliesslich akustischer Ablenkung waren nicht signifikant schlechter. In den Gruppen der kognitiven und der kognitiven plus akustischen Ablenkungen hingegen war die Links-Rechts-Unterscheidungsfähigkeit deutlich und signifikant negativ beeinträchtigt. Bei gemischter Orientierung der Strichmännchen (manche von vorne, manche von hinten zu sehen) wurde unter akustischer und kognitiver Ablenkung die richtige Seite durch-schnittlich nur bei 27 der 44 Figuren richtig erkannt. Nur bei dieser schwierigsten Aufgabe hatte die zusätzliche akustische Ablenkung einen signifikanten Effekt über die rein kognitive Ablenkung hinaus. Die Korrelation der Selbsteinschätzung der Studierenden mit ihren Tester-gebnissen war nur moderat (Korrelationskoeffizient r=0.39). Sowohl Über- als auch Unterschätzung der eigenen Rechts-Links-Unterscheidungsfähigkeit waren weit verbreitet. Die Studie zeigt, dass vor allem kognitive Un-terbrechungen zu Fehlern bei der Links-Rechts-Ein-schätzung führen. Rein akustische Ablenkungen hatten wenig Effekt auf die Leistung. Anspruchsvolle Unterschei-dungen, nämliche solche, bei denen die Orientierung im Raum berücksichtigt werden muss, sind besonders anfäl-lig für Störungen. Kognitive Ablenkungen sind im klinischen Alltag häufig. Wichtig ist es, einer auf den ersten Blick „banalen Sache“ wie der Rechts-Links-Unterschei-dung Aufmerksamkeit in Ausbildung und Training zu schenken. Ein erster Schritt dazu könnte sein, die Diskriminierungsfähigkeit in der Ausbildung standardmässig zu testen. Dies kann zu einer adäquateren Selbsteinschätzung führen. Zum anderen können Personen mit weniger guter Leistung Strategien entwickeln, wie sie ihre Rechts-Links-Unterscheidungsfähigkeit steigern können und weniger anfällig für Unterbrechungen sind.
Prof. Dr. D. Schwappach, MPH
Wissenschaftlicher Leiter von Patientensicherheit Schweiz
Dozent am Institut für Sozial und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern
(Den Volltext können wir aus Copyright Gründen leider nicht mit versenden).
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