Stiftung für Patientensicherheit, Schweiz: Paper of the Month #58 – Medikationsdiskrepanzen bei Patientinnen und Patienten in ambulanter Pflege
Tiihonen M, Nykänen I, Ahonen R, Hartikainen, S: Discrepancies between in-home interviews and electronic medical records on regularly used drugs among home care clients
Pharmacoepidemiology and Drug Safety 2016; 25:100-5. doi: 10.1002/pds.3909
Thema: Medikationsdiskrepanzen bei Patientinnen und Patienten in ambulanter Pflege
Diskrepanzen zwischen verordneten, dokumentierten und tatsächlich eingenommenen Medikamenten sind ein bedeutendes Problem der Medikationssicherheit. Exakte und vollständige Informationen darüber, welche Arzneimittel ein Patient regelmässig einnimmt, sind die Grundlage, um Medikationsfehler zu verhindern, potentielle Interaktionen zu erkennen, Diskontinuitäten zu vermeiden und Schaden abzuwenden. Die Häufigkeit von Diskrepanzen zwischen dokumentierten und tatsächlich eingenommenen Medikamenten ist für den stationären Bereich in den letzten Jahren untersucht worden. Für den ambulanten Bereich, insbesondere die ambulante Langzeitpflege («Spitex»), existieren solche Daten bislang nur sehr begrenzt. Diese Patienten befinden sich in der Regel in komplexen sozialen und medizinischen Situationen: Es liegen häufig mehrere (chronische) Erkrankungen und Einschränkungen vor; es wird oft eine Vielzahl Medikamente und anderer Hilfsmittel benötigt; die Personen sind in Teilen der Lebensführung völlig selbständig, in anderen Teilen auf Unterstützung angewiesen und verschiedene Personen sind in die Betreuung involviert (Angehörige, professionelle Pflege). In dieser Komplexität ist eine akkurate Liste der einzunehmenden Arzneimittel umso wichtiger. Tiihonen et al. untersuchten in Finnland Inkonsistenzen zwischen tatsächlich eingenommenen und dokumentierten Medikamenten in einer repräsentativen Stichprobe bei Personen über 75 Jahren, die ambulante Langzeitpflege in Anspruch nehmen. Dafür führten Pharmazeuten mit den Patienten in deren Wohnung ausführliche Interviews und nahmen dabei Verpackungen, Medikamentenpläne und Informationen der Betreuungspersonen und Angehörigen zu Hilfe. Die so gesammelten Informationen zu regelmässig eingenommenen, verordneten und freiverkäuflichen Medikamenten glichen sie mit dem in Finnland obligatorischen und umfassenden elektronischen Patientendossier (EMR) ab. Das Patienteninterview galt als «Gold-Standard» und jedes zusätzliche oder fehlende Medikament, welches vom Patienten regelmässig eingenommen wird, aber nicht in der EMR verzeichnet war, galt als Inkonsistenz. Zusätzlich wurden auch verschiedene gesundheitsbezogene Daten erhoben, zum Beispiel der mentale und funktionelle Status sowie Komorbiditäten. Insgesamt wurden 276 Personen in die Studie eingeschlossen. Im Durchschnitt nahmen die Patienten 9 verschiedene Medikamente regelmässig ein. Bei der überwiegenden Mehrheit der Patientinnen und Patienten (83%) wurde mindestens eine Diskrepanz zwischen Interview und EMR festgestellt. Das Auftreten von Diskrepanzen war häufiger bei Personen, die mit einem/einer Partner/Partnerin oder anderen Angehörigen zusammenlebten, bei exzessiver Polypharmazie und bei der Diagnose Asthma/COPD. Diskrepanzen waren auch häufiger bei Personen mit besserem funktionellem Gesundheitszustand. 63% der Patienten verwendeten mehr Medikamente als in der Patientenakte dokumentiert waren. Bei 40% der Patienten betrafen die Diskrepanzen klinisch relevante Arzneimittel. Die Prävalenz mindestens einer Diskrepanz war am höchsten bei Psycholeptika (22.1%), Analgetika (6.9%), Betablockern (5.8%), Mitteln mit Wirkung auf das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (5.8%). Sehr geringe Übereinstimmung gab es beispielsweise bei Paracetamol: Im Interview gaben 33% der Patienten die regelmässige Einnahme an, aber in der EMR war dies nur für 23% registriert. Es gab 45 Fälle, in denen das Medikament unterberichtet war (wird eingenommen, ist aber nicht dokumentiert) und gleichzeitig 18 Fälle, in denen es überberichtet war, also dokumentiert, aber nicht eingenommen wird. Ein ähnliches Bild zeigte sich bei Benzodiazepinen. Diese wurden von den Patientinnen und Patienten regelmässig eingenommen, waren aber allenfalls als Bedarfsmedikation registriert. Besonders gut war die Übereinstimmung von Patienteninterviews und EMR hingegen bei Diabetes-Medikamenten. Die Studie von Tiihonen et al. zeigt ein sehr alarmierendes Bild der Häufigkeit von Diskrepanzen zwischen tatsächlich regelmässig eingenommenen und dokumentierten Medikamenten bei Patienten in ambulanter Pflege. Bei 8 von 10 Patienten wurden solche Diskrepanzen entdeckt, von denen fast die Hälfte als klinisch relevant beurteilt wurde. In Anbetracht der Häufigkeit von Diskrepanzen, der involvierten Arzneimittel und der Tatsache, dass es sich meist um zusätzlich eingenommene Medikamente handelt, kann ein substantielles Risiko für unerwünschte Ereignisse vermutet werden. Die Studie bestätigt, wie wichtig die Auskünfte der Patienten zum Abgleich der Medikation und für die Erstellung einer aktuellen Medikationsliste sind. Entsprechende Aktivitäten sollen unbedingt auch Patienten in ambulanter Langzeitpflege erfassen, die eine besonders vulnerable Gruppe darstellen.
Prof. Dr. D. Schwappach, MPH
Leiter Forschung und Entwicklung von Patientensicherheit Schweiz und Dozent am Institut für Sozial und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern
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