23.01.2017 |
Stiftung für Patientensicherheit, Schweiz: Paper of the Month #65 – Fixierungsmaßnahmen und ihr Zusammenhang mit dem Skill-mix des Pflegepersonals
Staggs VS, Olds DM, Cramer E et al.: Nursing Skill Mix, Nurse Staffing Level, and Physical Restraint Use in US Hospi-tals: a Longitudinal Study
Journal of General Internal Medicine 2017; 32(1): 35-41. doi: 10.1007/s11606-016-3830-z
Thema: Fixierungsmaßnahmen und ihr Zusammenhang mit dem Skill-mix des Pflegepersonals
Die Fixierung von Patienten im Spital ist eine massive Ein-schränkung der persönlichen Freiheit und zu Recht nur unter hohen Auflagen erlaubt. Neben ethischen und juristi-schen Aspekten sind Fixierungsmassnahmen auch ein Thema der Patientensicherheit. Und zwar zum einen, weil die Gewährleistung der Sicherheit als Begründung für Fi-xierungsmassnahmen genannt wird, zum Beispiel um Stürze zu verhindern oder um bei aggressivem Verhalten die Selbst- und Fremdgefährdung zu reduzieren. Andererseits stellt die Verwendung von Fixierungsmassnahmen selbst ein erhebliches Risiko für die betroffenen Patienten dar, zum Beispiel für Strangulationen, Druckgeschwüre oder psychische Destabilisierung. Der angestrebte Verzicht auf Fixierungsmassnahmen kann eine aufwendigere Patien-tenbetreuung erfordern. Daher vermuteten Staggs et al. einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Anwen-dung von Fixierungsmassnahmen und der Verfügbarkeit von qualifiziertem Pflegepersonal. Sie verwendeten Daten von 3‘101 Abteilungen aus 869 US-amerikanischen Spitä-lern der Jahre 2006-2010 (923‘556 Patienten). Quartalsbe-zogen untersuchten sie die Quantität (Pflegestun-den/Patiententag) und Qualität des verfügbaren Pflegeper-sonals (Skill-mix: relativer Anteil der durch examiniertes Pflegefachpersonal geleisteten Stunden). Beide Faktoren wurden anhand der Verteilung der Daten in „sehr tief“, „tief“, durchschnittlich“, „hoch“ und „sehr hoch“ klassifiziert. Die Punktprävalenz der Fixierung von Patienten sowie spezifisch der Fixierung mit der Begründung der Sturzprävention wurde quartalsweise an einem definierten Stichtag erhoben. In einer aufwendigen Verlaufs-Analyse (Längsschnitt) untersuchten die Autoren, ob sich das Risiko für Fi-xierungen durch Veränderungen in der Personalausstat-tung innerhalb einer Abteilung erklären lässt. Verschiedene Begleitfaktoren auf Ebene des Spitals und im Patientenkollektiv wurden ausgeglichen. Die Prävalenz von Fixierungsmassnahmen lag insgesamt bei 1.8%, davon 0.9% spezifisch zur Sturzprävention. Die Rate von Fixierungsmassnahmen war besonders hoch in Quartalen, in denen Quantität oder Qualität des Pflegefachpersonals unter dem Durchschnitt der Abteilung lag, sowie systematisch zu Be-ginn eines jeden Jahres. Eine über dem Abteilungsdurch-schnitt liegende Personalausstattung führte nicht zu einer unterdurchschnittlichen Fixierungsrate. Insgesamt reduzierte sich der Einsatz von Fixierungsmassnahmen im Zeitraum zwischen 2006-2010 um etwa 50%. Es gab einen deutlichen und signifikanten Zusammenhang zwischen der Verwendung von Fixierungsmassnahmen und dem Skill-mix. Im Vergleich zu Quartalen mit durchschnittlichem Skill-mix war das Risiko für eine Fixierungsmassnahme 11% höher in Quartalen mit tiefem Skill-mix und sogar 18% höher in Quartalen mit sehr tiefem Skill-mix. Der Effekt war etwas schwächer auch vorhanden für Fixierungsmassnahmen zur Sturzprävention. In Abteilungen, in denen über die Quartale hinweg ein höherer durchschnittlicher Skill-mix vorhanden war (longitudinaler, abteilungsspezifischer Durchschnitt), war das Risiko für eine Fixierung signifikant tiefer als in Abteilungen mit tieferem durchschnittlichen Skill-mix. Hingegen war die Quantität der Personalausstattung relativ zum eigenen Abteilungsdurchschnitt nach Adjustierung anderer Faktoren kein signifikanter unabhängiger Einflussfaktor für die Verwendung von Fixierungsmassnahmen. Die Studie zeigt, dass der Einsatz von Fixie-rungsmassnahmen negativ mit der Qualifikation des Pflegepersonals korreliert. Die Gefahr der vermehrten Anwendung von Fixierungsmassnahmen kann durch die schiere Erhöhung von weniger qualifizierten Pflegestunden nicht abgefangen werden. Ein wesentlicher methodischer Vorzug der Studie ist, dass es sich um eine echte Längsschnittanalyse handelt. Bei Querschnittsuntersuchungen werden Personalausstattung und der Einsatz von Fixierungsmassnahmen zwischen Abteilungen oder Spitälern verglichen. Solche Vergleiche sind anfällig für systematische Verzerrungen, z. B. Unterschiede in den betreuten Patientenkollektiven. Die Longitudinaluntersuchung hingegen zeigt einen Zusammenhang innerhalb der gleichen Abteilung im Zeitverlauf. Die Abteilung fungiert so als ihre eigene Vergleichsgrösse. Die Übertragbarkeit der Resultate auf Europa ist unklar, da beispielsweise in der Schweiz Fixierungsmassnahmen juristisch eng begrenzt sind und nicht rein durch ärztliche Anordnung erfolgen können. Grundsätzlich ist aber naheliegend, dass auch in europäischen Ländern ein Zusammenhang zwischen der Ausstattung mit qualifiziertem Pflegefachpersonal und sicherheitsrelevanter klinischer Praxis existiert. Staggs et al. zeigen auf, dass fragwürdige und potentiell gefährliche Praktiken entstehen können, wenn Spitäler eine Abnahme des ver-fügbaren qualifizierten Personals nicht zeitnah ausgleichen können.
Prof. Dr. D. Schwappach, MPH
Leiter Forschung und Entwicklung von Patientensicherheit Schweiz und Dozent am Institut für Sozial und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern
(Den Volltext können wir aus Copyright Gründen leider nicht mit versenden).
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