08.05.2017 |
Stiftung für Patientensicherheit, Schweiz: Paper of the Month #67 – Warum dauert es so lang? Videoanalyse der Reaktionszeiten auf physiologische Monitoralarme
Bonafide CP, Localio AR, Holmes JH et al.: Video Analysis of Factors Associated With Response Time
to Physiologic Monitor Alarms in a Children’s Hospital
JAMA Pediatrics 2017; doi:10.1001/jamapediatrics.2016.5123
Thema: Warum dauert es so lang? Videoanalyse der Reaktionszeiten auf physiologische Monitoralarme
Das Monitoring von Patienten mit bettseitigen elektronischen Überwachungsgeräten ist inzwischen auch auf Bettenstationen sehr verbreitet. Physiologische Vitalparameter werden laufend überwacht und im Falle einer Abweichung von zuvor definierten Grenzbereichen wird ein Alarm ausgelöst. Mit diesem Alarm wird dem zuständigen Personal die Unter- oder Überschreitung der Grenzwerte akustisch und optisch signalisiert. Im Alltag hat jedoch ein erheblicher Anteil dieser Alarme keine klinische Relevanz. Die andauernde «Alarmierung» führt in der Folge zu «alarm fatigue», eine Anpassungsreaktion an kognitiven Stress. Die Desensibilisierung kann dazu führen, dass auf Alarme nicht oder nicht mehr zeitnah reagiert wird und sich die Reaktionszeiten verlängern. Bonafide und Kollegen wählten die Methode der Videoanalyse, um die Reaktionszeiten auf Monitoralarme und ihren Kontext zu untersuchen. Mithilfe von 7 temporär installierten Kameras zeichneten sie 550 Stunden der Patientenversorgung auf einer Station in einem grossen US-amerikanischen Kinderspital auf. Die Analyse bezieht sich auf Alarme, bei denen kein Kliniker im Patientenzimmer war und auch die zentrale Monitorstation nicht überwacht wurde und die zuständige Pflegefachperson per Text-Nachricht über den Alarm informiert wurde. Für die Alarme wurden verschiedene Kontextfaktoren anhand der Videomitschnitte und der Alarmprotokolle analysiert. Kontextfaktoren für jeden Alarm waren a) auf Ebene der Pflegefachperson: Erfahrung; Pflegeschlüssel; verstrichene Dienstzeit; Exposition mit nicht-handlungsrelevanten Alarmen in den vergangenen 120 Minuten. b) auf Ebene der Patienten: Alter; Anwesenheit von Angehörigen am Bett; Betreuungsintensität (komplexe Betreuung vs. allgemeine pädiatrische Versorgung); handlungsrelevanter Alarm in der Vergangenheit; Vorhandensein von Sonden oder Zentralvenenkatheter. c) auf Ebene des Alarms: Alarmtyp «letale Arrhythmie». Die relevante Outcome-Variable war die Zeit, die zwischen der Auslösung des Alarms und der Reaktion durch die Pflegefachperson verstrich. Als Reaktion wurde das Betreten des Patientenzimmers oder der Bearbeitung des Alarms auf der Überwachungszentrale gewertet. In die Studie eingeschlossen waren 38 Pflegefachpersonen die während der Studienzeit 100 Kinder betreuten. Die Patienten wurden kontinuierlich mit Pulsoxymetrie und/oder EKG monitorisiert. Insgesamt wurden 11‘745 Alarme aufgezeichnet (21.3 Alarme / Patientenstunde). 0.5% der Alarme waren handlungsrelevant, erforderten also eine Intervention (z.B. verbesserte Sauerstoffzufuhr) oder eine Abklärung mit einem Arzt. 3‘280 Alarme wurden in die weitere Analyse eingeschlossen, da sie die Kriterien zur Untersuchung der Reaktionszeit erfüllten (z.B. Pflegefachperson nicht im Zimmer, siehe oben). Die adjustierte Reaktionszeit betrug 10.4 Minuten. Das heisst, es dauerte 10 Minuten zwischen der Auslösung des Signals, bis die Pflegefachperson entweder im Patientenzimmer war oder den Alarm an der zentralen Monitorstation prüfte. Verschiedene Kontextfaktoren hatten einen erheblichen Zusammenhang mit der Reaktionszeit: Die Reaktionszeit war deutlich kürzer für Patienten, die in der komplexen vs. der allgemein-pädiatrischen Versorgung betreut wurden (5.3 Min. vs. 11.1 Min.), für Patienten, deren Angehörige nicht am Bett anwesend waren (6.3 Min. vs. 11.7 Min.), wenn die Pflegefachperson weniger vs. mehr als ein Jahr Berufserfahrung hatte (4.4 Min. vs. 8.8 Min.) und wenn der Personalschlüssel 1:1 vs. schlechter war (3.5 Min. vs. 10.6 Min.). Die Reaktionszeiten waren insbesondere kürzer, wenn der Patient bereits vorher einen handlungsrelevanten Alarm hatte (5.5 Min. vs. 10.7 Min) und wenn es sich beim Alarmtyp um eine letale Arrhythmie handelte (1.2 Min. vs. 10.4 Min.). Besonders interessant ist, dass sich die Reaktionszeit erheblich (um 15%) verlängerte mit jeder Stunde, die die Pflegefachperson bereits im Dienst war (6.1 Min in der zweiten Dienststunde vs. 14.1 Min in der achten Dienst-stunde). Die Häufigkeit der nicht-handlungsrelevanten Alarme in den jeweils zurückliegenden 120 Minuten hatte keinen Effekt auf die Reaktionszeit. Die Untersuchung von Bonafide et al. zeigt einerseits auf, dass die durchschnittlichen Reaktionszeiten mit über 10 Minuten lang sind. Er-müdung und Arbeitsbelastung beeinflussen die Reaktionszeiten erheblich. Andererseits zeigen die Daten eindrücklich, dass die Pflegefachpersonen in ihrer Adaption an die häufigen Fehlalarme Kontextinformationen nutzen, um mit intuitiven Entscheidungsregeln abzuschätzen, wie dringlich ein Alarm ist. Für die Reaktionszeit scheint die Langzeit-Exposition ein wichtigerer Einflussfaktor zu sein als die aktuelle kurzfristige Belastung mit Fehlalarmen. Die Verbesserung klinischer Alarmsysteme ist 2017 ein nationales Patientensicherheitsziel in den USA.
Prof. Dr. D. Schwappach, MPH
Leiter Forschung und Entwicklung von Patientensicherheit Schweiz und Dozent am Institut für Sozial und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern
(Den Volltext können wir aus Copyright Gründen leider nicht mit versenden).
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