18.10.2017 |
Stiftung für Patientensicherheit, Schweiz: Paper of the Month #70 – Erfolgreiches Absetzen unangemessener Medikation im Pflegeheim
Wouters H, Scheper J, Koning H, Brouwer C, Twisk JW, van der Meer H, Boersma F, Zuidema SU, Taxis K:
Discontinuing Inappropriate Medication Use in Nursing Home Residents: A Cluster Randomized Controlled Trial
Annals of Internal Medicine 2017; doi: 10.7326/M16-2729
Thema: Erfolgreiches Absetzen unangemessener Medikation im Pflegeheim
Die Verbesserung einer sicheren und angemessenen Arzneimitteltherapie von Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeheimen ist in vielen Ländern ein aktuelles und wichtiges Thema. Dabei sind typischerweise die hohe Anzahl der verordneten Medikamente (Polypharmazie) als auch die häufige Verordnung von für ältere Personen unangemessenen Medikamenten (PIM) problematisch. Daneben kann auch eine Unterversorgung mit sinnvoller Medikation existieren. Eine Anpassung und besonders eine Reduktion
der Medikamenten-Verordnungen sind oft schwierig zu bewirken, da in dezentralen Systemen viele Fachpersonen und Institutionen involviert sind. So kann es ein, dass eine Vielzahl von Ärztinnen und Ärzten jeweils eine kleine Zahl von Patienten in vielen verschiedenen Institutionen betreut. Vor allem muss aber natürlich sichergestellt sein, dass jede Intervention zur Anpassung der Arzneimitteltherapie die gesundheitliche Situation der Bewohnerinnen und Bewohner tatsächlich verbessert und nicht verschlechtert.
Wouters und Kollegen untersuchten in einer Clusterrandomisierten Studie in den Niederlanden, ob durch eine einmalige multidisziplinäre, vierstufige Intervention („3MR“) unangemessene Medikamente erfolgreich – also ohne gesundheitliche Nachteile für die Bewohnerinnen und Bewohner – abgesetzt werden können. Dafür wurden 35 Heimärzte von Pflegeheimbewohnern und die von ihnen betreuten Stationen (n=59: 33 Intervention und 26 Kontrolle) in die Studie eingeschlossen. Randomisiert wurde auf Ebene der Ärztinnen und Ärzte. Es wurden 426 Bewohnerinnen und Bewohner (233 Intervention, 193 Kontrolle) in die Studie eingeschlossen und im Durchschnitt 144 Tage nachverfolgt. Das Durchschnittsalter der Bewohner lag bei 83 Jahren und in beiden Gruppen hatten je knapp 50% eine dementielle Erkrankung.
Die 3MR-Intervention besteht aus vier Schritten: 1) Erhebung der Erfahrungen, Bedürfnisse und Präferenzen der Bewohner sowie der klinischen Daten und der Medikation (20 Minuten); 2) Analyse der Medikation sowie Identifikation von Über- und Unterverordnung und unangemessener Medikation anhand von klaren Kriterien (START, STOPP und Beers) durch Pharmazeuten (10 Minuten); 3) Multidisziplinäre Diskussion der Medikation zwischen Heimärztin oder Heimarzt und Pharmazeutin oder Pharmazeut mit Verabredung von Handlungsschritten (5 Minuten); 4) Durchführung der verabredeten Schritte und Kommunikation mit Bewohnern sowie Pflegefachpersonen über das Monitoring von potenziellen Nebenwirkungen (10 Minuten).
Als Kontrolle dieser Intervention diente die „Standard-Versorgung“, die allerdings in den Niederlanden ein Medikationssicherheits-Monitoring sowie einen ad-hoc Medikations-Review durch Pharmazeuten bei klinischer Indikation vorsieht. Untersucht wurden das erfolgreiche Absetzen unangemessener Medikamente (ohne Rückfall oder schwere Absetzprobleme) sowie die Lebensqualität und die klinische Symptomatik nach 4 Monaten Follow-up. Damit wurde berücksichtigt, dass das Absetzen der Medikation zu keinen negativen Wirkungen führen soll.
Die Ergebnisse zeigen, dass in beiden Gruppen bei einem erheblichen Anteil der Bewohner/innen mindestens ein Medikament erfolgreich abgesetzt wurde. Der Anteil war in der Interventions-Gruppe höher (39.1% Interventionsgruppe, 29.5% Kontrollgruppe, adjustiertes relatives Risiko 1.37). In anderen pharmakologischen und klinischen Ergebnissen unterschieden sich die Gruppen nicht. Besonders häufig konnten Arzneimittel für das alimentäre System (ATC A0), für das kardiovaskuläre System (ATC C0), das Muskel- und Skelettsystem (ATC M0) und besonders häufig für das Nervensystem (ATC N0; dies beinhaltet Schmerzmittel sowie Psycholeptika und Psychoanaleptika) erfolgreich abgesetzt werden.
Die Studie zeigt, dass in beiden Gruppen bei einem erheblichen Teil der Patientinnen und Patienten die potentiell unangemessenen Arzneimittel ohne nachweisbare negative Wirkungen erfolgreich abgesetzt wurden. Der durch die Intervention zusätzlich erwirkte Effekt betrifft rund 10% der Bewohnerinnen und Bewohner und ist deutlich kleiner als der bei der Studienplanung erwartete Effekt (20%). Allerdings muss dabei berücksichtigt werden, dass schon die Standardversorgung eben auch pharmazeutische Aktivitäten beinhaltet. Es muss auch bedacht werden, dass die 3MR-Intervention einmalig durchgeführt wurde und auch der Beobachtungszeitraum begrenzt war. Über die langfristigen Wirkungen oder das Potenzial einer regelmässigen Intervention (z.B. halbjährlich) können keine Aussagen getroffen werden. Vor allem aber ist die Übertragbarkeit der Machbarkeit und der Ergebnisse auf ein Versorgungssystem mit dezentraler ärztlicher Betreuung unklar. Dies stellt für viele Gesundheitssysteme wie auch für jenes der Schweiz eine besondere Herausforderung dar.
Prof. Dr. D. Schwappach, MPH
Leiter Forschung und Entwicklung von Patientensicherheit Schweiz und Dozent am Institut für Sozial und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern
(Den Volltext können wir aus Copyright Gründen leider nicht mit versenden).
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