Stiftung für Patientensicherheit, Schweiz: Paper of the Month #76 – Sicherheitsklima, IT und Risiken im diagnostischen Prozess in der Arztpraxis
Campione JR, Mardon RE, McDonald KM: Patient Safety Culture, Health Information Technology Implementation, and
Medical Office Problems That Could Lead to Diagnostic Error Journal of Patient Safety, 2018. doi: 10.1097/PTS.000000000000053
Thema: Sicherheitsklima, IT und Risiken im diagnostischen Prozess in der Arztpraxis
Verpasste, verzögerte und falsche Diagnosen stellen eine erhebliche und bislang zu wenig beachtete Problematik für die Patientensicherheit dar – auch in der ambulanten Ver-sorgung. In der Arztpraxis ist das zeitnahe Management von relevanten internen und externen Informationen eine wichtige Grundlage für die sichere Diagnosestellung. Dafür kann Informationstechnologie in der Praxis (IT, z.B. elektronisches Patientendossier) eine grosse Unterstützung bieten. Gleichzeitig ist bekannt, dass während, aber auch trotz Umstellung auf digitales Informationsmanagement Risiken entstehen, z.B. weil Systeme parallel geführt werden oder weil keine guten Mechanismen existieren, um auf neue Befunde hinzuweisen. Das Sicherheitsklima in einer Praxis kann als Rahmenbedingung das Risiko für Fehler beeinflussen. Wichtige Aspekte des Sicherheitsklimas sind Teamarbeit, Arbeitsbelastung, Führung, Massnahmen zur Fehlervermeidung sowie der Umgang mit Fehlern.
Campione et al. untersuchten den Zusammenhang zwischen dem Auftreten von konkreten Problemen im diagnostischen Prozess, dem Sicherheitsklima und dem Implementierungsstand von IT in ambulanten Praxen. Ihre Untersuchung basiert auf einer Befragung von Mitarbeitenden in Arztpraxen in den USA. Daran beteiligten sich 925 Praxen, aus denen durchschnittlich je 25 Personen (Ärzte, MPAs, etc.) teilnahmen (durchschnittliche Antwortrate 72%). In der Befragung wurden drei Arten von Informationen erhoben: Zum einen die Häufigkeit von spezifischen Ereignissen, die den diagnostischen Prozess negativ beeinflussen können: (1) eine Krankenakte war nicht verfügbar, wenn benötigt; (2) die Resultate eines Labors oder einer Bildgebung waren nicht verfügbar, wenn benötigt; (3) ein kritisches, anormales Laborergebnis oder eine Bildgebung wurden nicht binnen eines Werktages weiterbearbeitet.
Zu jedem dieser Ereignisse wurden die Teilnehmenden gefragt, wie häufig diese in ihrer Praxis in den letzten 12 Monaten aufgetreten waren. Zum anderen wurde anhand von 38 Fragen das Sicherheitsklima in der Praxis auf 10 Dimensionen (z.B. Teamarbeit) gemessen. Für die Analyse wurde der durchschnittliche Wert über die Dimensionen hinweg pro Praxis ermittelt. Höhere Werte zeigen ein «besseres Sicherheitsklima» in der Praxis an. Drittens wurden die Praxen nach dem Implementierungsstand der elektronischen Patientenakte und der elektronischen Verfügbarkeit von Testergebnissen (Labor, Bildgebung, Befundung) gefragt. Die Antworten wurden klassifiziert als «beides vollständig implementiert», «teilweise implementiert» und «beides gar nicht implementiert».
Zur Häufigkeit der Probleme im diagnostischen Prozess wurde «täglich» oder «wöchentlich» berichtet: 15% Krankenakte nicht verfügbar, wenn benötigt; 10% Resultate eines Labors oder einer Bildgebung nicht verfügbar, wenn benötigt; 4% kritisches, anormales Laborergebnis oder Bildgebung nicht binnen eines Werktages weiterbearbeitet. Eine Regressionsanalyse zeigte, dass, adjustiert nach Praxis-Merkmalen, ein tieferes Sicherheitsklima und der Implementierungsstand der IT signifikante Prädiktoren für das häufige Auftreten der drei spezifischen Probleme im diagnostischen Prozess waren. Praxen mit tieferem Sicherheitsklima berichteten das Auftreten dieser Probleme deutlich häufiger als Praxen mit höherem Sicherheitsklima. Unabhängig vom Sicherheitsklima traten alle drei Probleme häufiger auf, wenn elektronisches Patientendossier und Integration von Befunden nur teilweise und noch nicht vollständig implementiert waren (im Vergleich zu vollständig implementiert). Allerdings berichteten Praxen ohne implementierte IT zwei der drei Probleme nicht häufiger als Praxen mit vollständig imple-mentierter IT. Nur die nicht verfügbare Patientenakte war in Praxen ohne IT häufiger als in Praxen mit vollständiger IT. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass alle Daten im Rahmen einer einzigen Befragung erhoben wurden. So ist es durchaus vorstellbar, dass die teilweise Implementierung von IT nicht nur eine Phase besonderer Risiken für eine sichere Diagnosestellung ist, sondern auch eine Phase, in der die Mitarbeitenden die auftretenden Probleme eher registrieren.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass positives Sicherheitsklima und vollständig implementierte IT unabhängig voneinander mit geringerer Häufigkeit von Problemen im diagnostischen Prozess assoziiert sind. Das Sicherheitsklima hat also eine wichtige Bedeutung, auch wenn die Umstellung auf IT geglückt ist. Transitionen vom traditionellen zum digitalen Informationsmanagement stellen hingegen zunächst eine zunehmende Gefahr für die Patientensicherheit dar. Die Häufigkeit, mit der notwendige Informationen nicht oder nicht zeitnah verfügbar sind und bearbeitet werden, steigt zunächst. Es ist daher zu empfehlen, solche Phasen durch gezielte Massnahmen zu begleiten.
Prof. Dr. D. Schwappach, MPH
Leiter Forschung und Entwicklung von Patientensicherheit Schweiz und Dozent am Institut für Sozial und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern
(Den Volltext können wir aus Copyright Gründen leider nicht mit versenden).
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