Stiftung für Patientensicherheit, Schweiz: Paper of the Month #77 – Elektronische Dosierungswarnungen auf Intensivstationen
Wong A, Rehr C, Seger DLet al.: Evaluation of Harm Associated with High Dose‑Range Clinical DecisionSupport Overrides in the Intensive Care UnitDrug Safety, 2018. doi: 10.1007/s40264-018-0756-x
Thema: Elektronische Dosierungswarnungen auf Intensivstationen
Zur Verbesserung der Patientensicherheit liegen grosse Hoffnungen aufelektronischenSystemen, die die Fachper-sonen bei Entscheidungen und Handlungen unterstützen. Dazu gehören zum Beispiel Softwaresysteme zur Entscheidungsunterstützung bei Medikamentenverordnungen(clini-cal decision support, CDS), die Ärzte/-innen bei der korrekten Dosierung von Medikamenten unterstützen. Typischerweise warnen solche Systeme, wenn Dosierungen ausserhalb einer vorgesehenen Spannweite verordnet werden.
Wong et al. untersuchtenauf sechs Intensivstationen (IPS) eines Spitals, wie häufig Dosierungswarnungen übergangen bzw. die Dosierungen angepasst werden, ob diese Entscheide klinisch angemessen sind und ob mit dem Übergehen der Warnung das Auftreten von unerwünschten Arzneimittelereignissen begünstigt wird. Warnmeldungen wurden dann ausgelöst, wenn die verordnete Dosis mindestens 5% über der Tagesdosis eines Medikamentes lag. Die klinische Angemessenheit der übergangenen Warnungen wurde durch zwei Experten begutachtet. Diese benutzten dafür ein in einer interdisziplinären Fachgruppe definiertes, für jedes Medikament spezifischesKriterienset. Bei denjenigen Verordnungen mit übergangener Warnung und erfolgter Medikamentengabe wurde anhand der Krankenakte geprüft, ob die Medikamentengabe zu einem unerwünschten Arzneimittelereignis geführt hat. Zwei Gutachter bewerteten unabhängig voneinander die Wahrscheinlichkeit, eines unerwünschtes Arzneimittelereignisses sowie die Schwere dieses Ereignisses. Insgesamt wurden die Daten von 755 Patientinnen und Patienten in die Studie eingeschlossen.
Während der Beobachtungszeit gab das System 1525 Dosierungswarnungen aus, von denen 93% übergangen wurden. Am häufigsten wurden Warnungen zur Dosierung bei kontinuierlichen Insulininfusionen (18.5% der übergangenen Warnungen), Antibiotika (12.3%) und Benzodiazepine (9.7%) übergangen. 30% der übergangenen Warnungen bezogen sich auf eine kontinuierliche Infusion. In knapp einem Drittel der übergangenen Warnungen gaben die verordnenden Ärzte/-innen eine Begründung für ihre Entscheidung an. Dies waren vor allem „werde es beobachten“, „Nutzen überwiegt Risiken“ und „Patient tolerierte es zuvor“. Von den 1418 übergangenen Warnungen wurde das Übergehen durch die Gutachter in 89% als klinisch angemessen beurteilt. Bei vielen Medikamenten wurden alle übergangenen Warnungen als angemessen beurteilt (z.B. Insulin, Heparin, Lorazepam, Fentanyl, Haloperidol). Bei nur zwei Medikamenten wurden weniger als 50% der übergangenen Warnungen als angemessen beurteilt (Ceftazidim, Cefepim). Insgesamt wurden 11 unerwünschte Arzneimittelereignisse in den Krankenakten identifiziert, die im Zusammenhang mit den übergangenen Warnungen standen. Davon wurden 4 als „definitives“ und 7 als „vermutliches“ unerwünschtes Arzneimittelereignis bewertet. Die Schwere des Ereignisses wurde in 3 Fällen als „erheblich“ und in 8 Fällen als „schwerwiegend“ eingestuft. Das Auftreten eines
unerwünschten Arzneimittelereignisses war signifikant mit der Angemessenheit der Übergehung assoziiert: Die Rate der unerwünschten Arzneimittelereignisse lag bei 1.3/100 übergangenen Warnungen, die als klinisch angemessen beurteilt wurden und bei 5.0/100 übergangenen Warnungen,die als klinisch un-angemessen beurteilt wurden.
Die Studie zeigt deutlich, dass der weit überwiegende Teil der Dosierungswarnungen von den verordnenden Ärzten/-innen übergangen wird. Dieses Übergehen ist in den meisten Fällen klinisch angemessen. Ganz offensichtlich sind die Warnmeldungen derzeit nicht so spezifisch, dass sie imkli-nischen Alltag hilfreich sind. Gleichwohl gibt es eine geringe Anzahl von Warnungen, deren Übergehen mit einem erhöhten Risiko für die Patienten verbunden ist. In der Konsequenz müssen die Algorithmen für Dosierungswarnmeldungen angepasst werden. Dies betrifft gerade klinische Bereiche, in denen typischerweise spezifische Dosierungenauch ausserhalb der üblichen Spannbreiteeingesetzt werden, wie beispielsweise in der Intensivmedizin und der Neonatologie. Insbesondere ist wichtig, dass die Systematik der Warnmeldungen aus dem CDS mit den internen Leitlinien in Einklang stehen, um das Auftretenwidersprüchlicher Informationen zu reduzieren.
Prof. Dr. D. Schwappach, MPH
Leiter Forschung und Entwicklung, Stiftung für Patientensicherheit und Dozent am Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern
(Den Volltext können wir aus Copyright Gründen leider nicht mit versenden).
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