KH-CIRS-Netz Deutschland: Fall Nr. 257781: „Fehlende Indikation für Transfusion - Blutentnahmeröhrchen vertauscht?“
Fachkommentar des Fachbeirats CIRSmedical.de (BDA/DGAI)
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Autor: Interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft für klinische Hämotherapie (IAKH) in Vertretung des Berufsverbandes Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten (BDA) und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie & Intensivmedizin (DGAI)
Problemanalyse
Als Ursache dieses Beinahe-Fehlers kommen erstrangig verschiedene Ursachen in Frage:
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Es handelt sich um eine Verwechslung der Blutproben durch Fehletikettierung oder Verwechslung der Patienten. Dass 2 Patienten derselben Blutgruppe verwechselt werden, ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:3 recht häufig. Da immer zwei Patienten verwechselt werden, müsste unbedingt auch nach dem anderen unerkannt Transfusionspflichtigen gesucht werden.Hier wäre eine „folgenlose”, weil major-kompatible Fehltransfusion für die geschilderte Patientin resultiert, mit fraglichen Wirkungen einer Alloimmunisierung und möglichen Antikörperreaktionen bei nochmaliger Exposition. Für den anderen Patienten fehlt die Konserve nun, es käme zu Verzögerungen oder nochmalig zu Verwechslungen. Eine genaue Nachforschung ist schon aus diesem Grunde notwendig. Da allerdings eine fehlerhafte Abnahmetechnik oder mangelhafte eindeutige Patientenidentifikation auch letale major-inkompatible hämolytische Transfusionsreaktionen zur Folge haben kann, ist die Ursachenforschung als Reaktion auf die Meldeursache mit dem Potenzial zur zukünftigen extrem wichtig.
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Das Blut ist aus derselben Vene abgenommen worden, in der weiter distal eine Infusion eingelaufen ist. Der eigentliche Hämatokrit ist somit falsch zu niedrig. Dies ist ein sehr häufiger präanalytischer Fehler, der auch oft unbemerkt bleibt und zu falschen Therapieentscheidungen führt. Dieser Fall hat sich vermutlich prähospital, in der Notaufnahme oder dem Schockraum ereignet. So ist eine Beurteilung der Laborwerte im Verlauf als unschlüssig (zum Beispiel durch einen sorgfältigen Arzt oder der Labor-Software Deltacheck) nicht möglich, da der Patient mit einer Fraktur gerade aufgenommen wurde. In diesem Fall der fehlerhaften Abnahmetechnik ist eine Aufarbeitung der Fehlerursache noch einmal mehr dringlich, weil er häufiger ist und gleich relevant für Therapieentscheidungen mit vitaler Auswirkung.
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Die Übernahme von Blutproben aus dem prähospitalen Sektor ist immer kritisch zu hinterfragen. Die Verantwortung für die Korrektheit der Blutentnahme liegt beim behandelnden Arzt, hier beim aufnehmenden Aufnahmearzt. Der Verwurf kostet den Patienten 15ml Blut (eigentlich vertretbar, aber unnötig). Auch wenn das Rettungsdienstpersonal das Vertrauen der Notfallambulanz genießt, es gibt immer wieder Personalfluktuation und präklinisch geringer standardisierbare Situationen. Deshalb sollen solch kritische intrahospitale Therapieentscheidungen wie die Bluttransfusion auf ein verlässlicheres Konzept gestellt werden. Die meisten Aufnahmeeinheiten haben die Übernahme von prähospital abgenommenen Blutproben deshalb untersagt. Eine andere gut praktikable Möglichkeit ist es, die Blutgruppenbestimmung mit Antikörpersuchtest in einer getrennten Entnahme zum Kreuzblut persönlich in der Klinik zu vollziehen und die Blutgruppe nochmalig auch beim Kreuzblut zu kontrollieren. Die klügste Methode ist die an der Charité etablierte Methode der mit der Verweilkanüle fest verbundenen Mikroprobenküvette zur Bestimmung der Blutgruppe, die vor dem Anschluss von Infusionen an diese Kanüle befüllt werden muss und mit einem Patientenidentifikationscode versehen ist [11].
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Eine Bereitstellung von Konserven orientiert sich in erster Linie am Erythrozytenvolumen der Patienten (berechenbar aus KG, Größe, Geschlecht und Hämatokrit [1,2]), dann aus der eingriffsbezogenen Statistik der Einrichtung bezüglich des Blutverlusts und der Transfusionsfrequenz. In dieser Meldung ist von all dem nicht die Rede, weshalb anzunehmen ist, dass ein individualisiertes Vorgehen oder gar eine präoperative Anämiediagnostik und -therapie nicht etabliert ist (wie in vielen Kliniken Deutschlands [3]). Die kann und sollte auch bei Akutfällen ein Konzept haben. Bei Frakturen und kurzer Vorbereitungsperiode sind Maßnahmen im Rahmen des Patient Blood Managements (PBM) wie eine Hochdosistherapie mit intravenösem Eisen und Erythropoetin [4, 5] als auch die Verwendung der maschinellen Autotransfusion [6] sinnvoll. Da der Patient diesbezüglich bei Aufnahme und Indikationsstellung aufgeklärt werden muss, davon aber in dieser Meldung nichts zu lesen ist, muss davon ausgegangen werden, dass dies nicht erwogen wurde. Jedenfalls hätte sich die Fehlabnahme bei der weiteren Anämiediagnostik aufgeklärt. Wären Strukturen wie eine PBM-Ambulanz vorhanden, unter Umständen mit einem noninvasiven Photometer zur Messung der Hämoglobinkonzentration (HB)[7], könnten solche Ereignisse noch einfacher korrigiert werden. Die Nutzung der derzeit erhältlichen non-invasiven Geräte sind wegen der Ungenauigkeit der Methode nicht als Messinstrument und damit als Entscheidungsgrundlage "Anämie ja/nein" geeignet, aber können als Screening-Instrument durchaus nützlich sein [8].
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Die in dieser Einrichtung etablierte Korrektur der präoperativen Anämie durch präoperative Transfusion auf Station spricht dafür, dass keine perioperative Anämiediagnostik und -korrektur als interdisziplinärer Klinikpfad üblich ist. Die prophylaktische Transfusion von Erythrozytenkonzentraten ist nicht indiziert, es sei denn durch eine Hämoglobinkonzentration unter 6g/dl beim asymptomatischen Patienten (laut QLL Hämotherapie von 2020 bei Normovolämie [9, 10]).
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Andere Laborwerte in dieser Blutabnahme waren vermutlich auch auffällig. Bei einer Verdünnung durch Elektrolytinfusionen verändern sichdie Elektrolyte nicht, wenn Ringer infundiert wurde. Bei einer realen Anzahl von Thrombozyten über 200 G/l bleibt man auch bei Verdünnung normwertig. Kreatinin in beiden Proben ist das Empfindlichste. Das heißt, auch das Labor hätte den Fehler bemerken können, wenn noch andere Werte gleichzeitig bestimmt wurden.
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Eine erneute Laborkontrolle hat in diesem Fall Zeit und Material gekostet, während eine Blutgasanalyse mit weniger Aufwand ein Tool ist, das beinahe überall rasch verfügbar ist und zur Klärung benutzt werden kann. Allerdings haben Stationsärzte oftmals nicht die Kenntnis, dass da eines auf der Intensivstation oder im Labor steht, dass man da auch so mal schneller nutzen kann.
Prozessqualität
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Fortbildung alle und SOP/VA – alle blutabnehmenden Kräfte: Korrekte Technik der Patientenidentifikation und Blutabnahme
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Fortbildung – alle Ärzte: Beurteilung und Kontrollmöglichkeiten von Laborwerten. Folgen von präanalytischen Fehlern sind therapeutischen Fehlentscheidungen!
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SOP/VA Notaufnahme – Ärzte: Blutprobenübernahme vom Rettungsdienst
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M&M-Konferenz zum Fall
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Meldung an die Transfusionskommission
Strukturqualität
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ÄD, CA, TV, IT, Labor: Einführung des Hans-Hirschfeld Devices (siehe [11])
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ÄD, TV, alle CÄ: Erstellung und Einführung eines Klinikpfades Präoperative Anämie und Anschaffung von noninvasiven Hb-Oxymetern, Hämocue o.ä.
Literatur
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[1] Schlegel M. Vortrag bei den IAKH Transfusionsgesprächen. 2015. https://www.iakh.de/tl_files/iakh/public/aktuelles/Individuelle%20Haemotherapie-%20Vortraege/2015/Schlegel%20-%20Optimierung%20des%20Erythrozytenvolumens.pdf
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[2] Welte M, Zacharowski K. Der individualisierte Transfusionstrigger. Ana?sth Intensivmed 2018;59:132-144. DOI:10.19224/ai2018.132
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[3] Frietsch T, Wittenberg G, Horn A, Steinbicker AU. Implementation of a "Patient Blood Management" program in medium sized hospitals: Results of a survey among German hemotherapists.Health Sci Rep. 2022;5(6):e924. Published 2022 Nov 18. doi:10.1002/hsr2.924
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[4] Frietsch T. Erythropoese stimulierende Pharmaka (ESP). In Singbartl & Singbartl. Transfusionsassoziierte Pharmakotherapie. 1. Aufl. Berlin, Heidelberg: Springer; 2016:35-70.
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[5] Spahn DR, Schoenrath F, Spahn GH, et al. Effect of ultra-short-term treatment of patients with iron deficiency or anaemia undergoing cardiac surgery: a prospective randomised trial.Lancet. 2019;393(10187):2201-2212. doi:10.1016/S0140-6736(18)32555-8
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[6] Beeton G, Zagales I, Ngatuvai M, et al. Cost-Effectiveness of Cell Salvage in Trauma Blood Transfusions.Am Surg. 2023;89(11):4842-4852. doi:10.1177/00031348231175124
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[7] Shah N, Osea EA, Martinez GJ. Accuracy of noninvasive hemoglobin and invasive point-of-care hemoglobin testing compared with a laboratory analyzer.Int J Lab Hematol. 2014;36(1):56-61. doi:10.1111/ijlh.12118
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[8] Wittenmeier E, Paumen Y, Mildenberger P, et al. Non-invasive haemoglobin measurement as an index test to detect pre-operative anaemia in elective surgery patients - a prospective study.Anaesthesia. 2021;76(5):647-654. doi:10.1111/anae.15312
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[9] Querschnittsleitlinie Hämotherapie BÄK Bundesärztekammer auf Empfehlung ihres Wissenschaftlichen Beirats. Querschnittsleitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten: Gesamtnovelle 2020. Köln: Deutscher Ärzteverlag; 2021. https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ordner/MuE/Querschnitts-Leitlinien_BAEK_zur_Therapie_mit_Blutkomponenten_und_Plasmaderivaten-Gesamtnovelle_2020.pdf
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[10] Meybohm P, Hartwig E, Bücking B, Eschbach D. SOP – Patientenorientiertes Blutmanagement (PBM) (Version 2.0). Sektion Alterstraumatologie der DGU. 2021. https://www.auc-online.de/fileadmin/AUC/Dokumente/Zertifizierung/AltersTraumaZentrum_DGU/SOP_PatientenorientiertesBlutmanagement_V2.0.pdf. (letzter Zugriff: 20.03.2024)
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[11] Schmidt-Hieber M, Schuster R, Nogai A, Thiel E, Hopfenmüller W, Notter M. Error management of emergency transfusions: a surveillance system to detect safety risks in day to day practice. Transfus Apher Sci. 2006;35(2):125-130. doi:10.1016/j.transci.2006.06.001.
Häufig verwendete Abkürzungen:
ÄD - Ärztliche/r Direktor/in, CA - Chefarzt/Chefärztin, EK – Erythrozytenkonzentrat, IT - Informationstechnik/er, M&M - Konferenz zu Morbidität und Mortalität, SOP - Standard Operating Procedure, TV - Transfusionsverantwortliche/r, VA - Verfahrensanweisung
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