Fall des Monats November 2010 |
22.11.2010 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Ein Patient wird nach einer unauffälligen Narkose in die Aufwachstation verlegt. Da es sich um den letzten Elektivpunkt handelt, werden Beatmungsschläuche, Handbeatmungsbeutel und Atemkalkbehälter abgebaut und in die Waschmaschine eingeräumt. Kurze Zeit später erfolgt die Meldung "Nachblutung im Aufwachraum" und der gleiche Patient kommt umgehend zurück in den OP. Die Anästhesie-Pflege bestückt das Narkosegerät "Cicero" mit neuen Schläuchen und startet den "Leckagetest" (Taste rechts oben). Ein Notfallnarkosetisch wird vorbereitet. Der eintreffende Narkosearzt erhält die Meldung von der Anästhesie-Pflege: "Gerät mit neuen Schläuchen getestet"; am Monitor des Narkosegerätes ist die Meldung "Standby-Leckagetest abgebrochen" zu lesen. Bei der üblichen manuellen Dichtigkeitsprüfung durch den Narkosearzt vor Narkosebeginn lässt sich kein Druck in den Schläuchen aufbauen und auch der Handbeatmungsbeutel füllt sich nicht. Es dauert einige Momente, bis der Pflegekraft auffällt, dass der Atemkalkbehälter nicht eingeschraubt ist; für den Anästhesisten war der Behälter "von oben" nicht einsehbar. Nach Einbau des Behälters ist das Gerät betriebsbereit. ASA-Klassifizierung:ASA IIVersorgungsart:NotfallPatientenzustand:
Patient wach, kreislaufstabil, nicht ateminsuffizient Fallbeschreibung:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.) Was war besonders gut:Der Anästhesist führt vor Narkosebeginn grundsätzlich einen manuellen Dichtigkeitstest durchWas war besonders ungünstig?Das Fehlen des Atemkalkbehälters ist "stehend" nicht oder nur schlecht zu sehen. Die Meldung "Standby-Leckagetest abgebrochen" liefert weder einen Hinweis auf eine Leckage noch auf eine fehlende Systemkomponente, sondern könnte auch andere Gründe beinhalten. Der Anästhesist war von der Annahme ausgegangen, dass ein Dichtigkeitstest gleichbedeutend mit einem Funktionstest des ganzen Gerätes ist, so dass die Meldung "Standby" bedeutet, dass das Gerät in Ordnung ist und die Ursache in den Schläuchen liegen muss.Eigener Ratschlag:Wenn das Gerät – „Leckagetest abgebrochen“ meldet, sollte dies automatisch die Frage nach dem WARUM auslösen und eine Ursachensuche in Gang setzen.Wie häufig tritt das Ereignis in Ihrer Abteilung auf?SeltenWer berichtete:PflegekraftBerufserfahrung:über 5 JahreDie Analyse aus der Sicht des AnästhesistenVertrauen ist gut – Kontrolle ist besser. Im Prinzip durfte der Anästhesist der Aussage der Pflegekraft vertrauen, dass das Gerät für die anstehende Notfallanästhesie aufgerüstet und betriebsbereit ist. Unabhängig davon ist es mehr als sinnvoll sich selbst als Anästhesist einen kurzen Überblick über die Funktionsbereitschaft des Gerätes zu machen. Dazu gehört ein kurzer manueller Dichtigkeitstest und den sollte man als gängigen Standard betrachten. Er wurde durchgeführt und führte zur Erkennung und Behebung des Fehlers. Wir halten das Verfahren, dass Systemtests in Ausnahmefällen durch den Anwender abgebrochen werden können und das Gerät trotzdem in den Standby Betrieb wechselt (und damit Betriebsbereitschaft signalisiert) aus sicherheitsrelevanten Überlegungen für problematisch. In jedem Fall ist man gut beraten, sich in einem solchen Falle besonders gründlich von der Funktionssicherheit des Gerätes zu überzeugen. Zu jedem Gerät gehört eine Checkliste. Diese ist auch in Notfällen konsequent abzuarbeiten. Wieso der Pflegekraft nicht aufgefallen ist, dass der Atemkalkbehälter fehlte, kann nur durch die Eile der Notfallsituation erklärt werden. Die Sichtprüfung des Gerätes und des Schlauchsystems auf Vollständigkeit wurde also nicht konsequent vorgenommen. Das Gerät selbst hat (irgendwie) den Fehler bemerkt, nicht klassifizieren können und den Leckage Test abgebrochen, dies eindeutig auf dem Display angezeigt. Wird bei der Betriebsprüfung eines Gerätes ein Fehler angezeigt, so darf dieses Gerät nicht am Patienten eingesetzt werden, zumindest solange nicht bis der Fehler behoben ist. Wir haben früher häufiger den Fehler beobachtet, dass der Atemkalkbehälter entleert wurde und leer wieder am Narkosegerät eingesetzt wurde. Die Folge war, dass alle Dichtigkeitstests bestanden wurden, das Fehlen des Atemkalkes erst während der Anästhesie durch ansteigende inspiratorische CO2-Koinzentrationen bemerkt wurde. Wir haben daraufhin umgesetzt, dass der leere Behälter stets auf das Gerät gestellt und somit immer sichtbar war (vor einigen Jahren wurden Atemkalkbehälter täglich erneuert, um ein Austrocknen des Atemkalkes zuverlässig zu vermeiden; dies ist bei den modernen Kalken nicht mehr so stringent notwendig). Die Frage stellt sich wie weit der Anästhesist eine Überprüfung des Gerätes selbst vornehmen muss. Wenn das Gerät eine Fehlermeldung zeigt (wie im vorliegenden Fall) muss der Anästhesist selbst oder mit Hilfe der Pflegekraft diesen Fehler zunächst beheben: in unserem Fall den Leckagetest wiederholen. Er sollte dann auch die Checkliste (die an jedem Gerät angebracht sein muss) zur Hand nehmen und gemeinsam mit der Pflegekraft die einzelnen Punkte noch einmal durchgehen. In diesem Zusammenhang verweisen wir auf die DGAI-Info von 2006 und den Zusatz von 2009 [1,2]. In diesen beiden Artikeln wird ausführlich auf die Notwendigkeit und den Umfang der Gerätechecks – auch auf Notfälle bezogen – eingegangen. Schließlich kann man der Abteilung grundsätzlich empfehlen, ein voll aufgerüstetes und getestetes Narkosegerät für eine solche Notsituation in Reserve vorzuhalten, damit bei einem Gerätefehler stets zeitnah ein einsatzbereites Ersatzgerät vorhanden ist.
Die Analyse aus der Sicht des JuristenAuch und gerade beim Einsatz von Medizintechnik ist besondere Aufmerksamkeit geboten. Zwar formuliert der Bundesgerichtshof zunächst recht nachsichtig (Urteil vom 18.12.1990, NJW 1991, 540): „… der Arzt schuldet dem Patienten nicht die erfolgreiche Herstellung seiner Gesundheit, sondern lediglich das sorgfältige Bemühen um Hilfe und Heilung; die Vorgänge im lebenden Organismus können auch vom besten Arzt nicht immer so beherrscht werden, dass schon der ausbleibende Erfolg oder auch ein Fehlschlag auf ein Verschulden bei der Behandlung hindeuten würde …“ Anders und streng urteilt der Bundesgerichtshof jedoch dann, wenn es um sicher beherrschbare Risiken geht, etwa gerade beim Einsatz der Medizintechnik: „Anderes gilt aber dann, wenn es nicht um diesen nur begrenzt steuerbaren Kernbereich des ärztlichen Handelns, sondern um Risiken insbesondere aus dem Krankenhausbetrieb geht, die von dem Träger der Klinik und dem dort tätigen Personal voll beherrscht werden können. So liegen die Dinge z.B. im Bezug auf die Organisation und Koordination des Behandlungsgeschehens und den Zustand der dazu benötigten Geräte und Materialien. Deshalb hat der erkennende Senat dem Krankenhausträger und seinen Ärzten die Beweislast für die Gewähr einwandfreier Voraussetzungen für eine sachgemäße und gefahrlose Behandlung zugewiesen, wenn es etwa um Fragen wie den ordnungsgemäßen Zustand eines verwendeten Tubus, die Funktionstüchtigkeit des eingesetzten Narkosegerätes, die Reinheit des benutzten Desinfektionsmittels, die Sterilität der verabreichten Infusionsflüssigkeit, die unbemerkt gebliebene Entkopplung eines Infusionssystems, das Zurückbleiben eines Tupfers im Operationsgebiet oder die richtige Lagerung des Patienten auf dem Operationstisch.“
Weiterführende Literatur:
Autoren: Prof. Dr. med. W. Heinrichs, AQAI GmbH, Mainz Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Ass. iur. E. Weis, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Dipl.-Sozialw. T. Dichtjar, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Dr. M. St. Pierre, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen |