Fall des Monats Januar 2011 |
02.03.2011 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Unerkannter Pneumothorax nach vertikal inferiorer Plexusanästhesie Der Fall:Unerkannter Pneumothorax nach vertikal inferiorer PlexusanästhesieZuständiges Fachgebiet:AnästhesiologieWo ist das Ereignis aufgetreten?KrankenhausVersorgungsart:RoutinebetriebPatientenzustand:Patient zu geplantem Eingriff an der oberen Extremität mit schwerer, jedoch adäquat therapierter COPD.Fallbeschreibung:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.) Wer berichtete:Ärztin/ArztDie Analyse aus der Sicht des AnästhesistenDer Patient wies eine schwere COPD auf, die sich in der unter Raumluftbedingungen pathologischen Pulsoxymetersättigung von <80% manifestiert. Aufgrund einer Trikuspidalinsuffizienz (und des COPD) waren die Halsvenen gestaut. Diese Hauptbefunde überdecken später die eingetretene Komplikation. Positive Aspekte: Der Patient wurde kontinuierlich überwacht. Trotz der eingetretenen Komplikation konnte er mit Intubation, Beatmung, teilinvasiver Beatmung mit Larynxmaske und verschiedenen medikamentösen Maßnahmen bis zur Aufnahme auf der Intensivstation betreut werden. Dort sind die Aufnahmewerte grenzwertig und nur aufgrund der Tatsache, dass der Patient mit seinem COPD an eine Azidose adaptiert war, lässt den Fall am Schluss noch gut ausgehen. Auf der Intensivstation wird dann die entscheidende Thoraxröntgenaufnahme gemacht, die zur Lösung des Problems und auch zur Restitutio des Patienten führt. Kritische Aspekte: Dem Bericht ist zunächst zu entnehmen, dass der Anästhesist eine offenbar vorgesehene axilläre Plexusblockade wegen niedriger persönlicher Erfolgsrate und im Hinblick auf eine lange Anschlagzeit nicht durchgeführt hat, sondern auf den VIP auswich. Diese Argumentation ist bei einem Patienten mit einem deutlich erhöhten Anästhesierisiko nur teilweise konstruktiv. Wurde die Änderung in VIP vorgenommen, um sicher zu stellen, dass der pulmonal gefährdete Patient in jedem Fall adäquat mit einer Regionalanästhesie versorgt werden konnte, so kann man der Argumentation folgen. Im Hinblick auf die angeführte niedrige persönliche Erfolgsrate hätte aber auch ein Kollege hinzugezogen werden können, der die axilläre Blockade mit der notwendigen Sicherheit hätte durchführen können. Zeitliche Aspekte sollten bei einem solchen Patienten schon gar keine Rolle spielen. Zu akzeptieren ist, dass der VIP bei richtiger Durchführung das bessere Verfahren für die Versorgung eines Eingriffs an der distalen oberen Extremität (in Blutleere) ist. Die Frage ist nur: wenn auch die Punktion zum VIP bei richtiger Technik ein nur sehr kleines Risiko hat (0,2 – 0,7 % nach Neuburger al. 2001; vgl. auch Klaastad et al. 2005), einen Pneumothorax zu verursachen, wie sehr steigt dieses Risiko bei einem Patienten mit schwerer COPD bei dem möglicherweise Bullae im Bereich der Pleurakuppel auftreten, die bei der Punktion dann leichter zu treffen sind. Die Punktion selbst klappte erst beim zweiten Versuch, ein weiterer Hinweis, dass die Komplikation bei der Anlage des VIP wohl ausgelöst wurde. Kurze Zeit nach der Punktion breitet sich die Regionalanästhesie zwar regelgerecht aus, es kommt aber im zeitlichen Zusammenhang mit Lagerung und Miktion zu einem Anfall massiver Dyspnoe mit schwerster Zyanose. Im Folgenden begeht der Anästhesist einen klassischen Fixierungsfehler: alle Symptome werden der Grundkrankheit zugeschrieben und nicht mit der VIP-Doppelpunktion in Zusammenhang gebracht. Die weitere Therapie orientiert sich zudem hauptsächlich an Symptomen und lässt nicht erkennen, dass man versucht hat, systematisch nach der Ursache der dramatischen Verschlechterung zu suchen. Ebenfalls wird scheinbar kein zweiter erfahrener Kollege zu Hilfe gerufen. Der Bericht vermittelt den Eindruck, dass selbst das Ergebnis der Röntgenaufnahme auf der Intensivstation eher überraschend war. Wie schon erwähnt wurden typische Symptome eines Spannungspneumothorax durch die Lungenerkrankung und die Trikuspidalinsuffizienz partiell überdeckt. Dennoch hätte man sich bereits präoperativ fragen müssen, warum es so plötzlich zu einer so massiven Verschlechterung des Gesamtzustandes kommen konnte. Eine probatorische Perkussion hätte weitere Hinweise gegeben - schließlich gibt es in jedem unfallchirurgischen OP ein Durchleuchtungsgerät, mit dem das Problem hätte erkannt und umgehend gelöst werden können. Differentialdiagnostisch hätte man neben dem Pneumothorax noch an eine durch den VIP ausgelöste Phrenikusparese denken können. Vermutlich hätte diese aber nicht so starke Probleme gemacht. Zumindest wäre nach Intubation eine Verbesserung der Situation zu erwarten gewesen, da durch die Phrenikusparese ja nur eine partielle Atemlähmung, nicht eine weitere Schädigung der Lunge eingetreten wäre. Der Anästhesist (bzw. der Patient!) hatte Glück im Unglück: ein massiver Spannungspneumothorax hat sich trotzt der Beatmung nicht entwickelt. Dabei hätte der Patient durchaus in tabula versterben können. Warum man sich entschlossen hat, einen nicht vital erforderlichen Eingriff bei offensichtlicher vitaler Gefährdung des Patienten ohne eindeutige Abklärung durchzuführen, bleibt offen und ist äußerst kritisch zu bewerten. Die Analyse aus der Sicht des AnästhesistenDie Fallbeschreibung wirft aus juristischer Sicht einige Fragen auf. Unter dem Aspekt der zivilrechtlichen Haftung und der strafrechtlichen Verantwortung ist danach zu fragen, ob der Patient einen Schaden erlitten hat, der ursächlich auf einen (ärztlichen) Behandlungsfehler zurückzuführen ist. Der Patient hat einen Schaden in Form des Spannungspneumothorax erlitten. Gibt es aber auch Hinweise auf Verstöße gegen die im Zeitpunkt der Behandlung geltenden anästhesiologischen Sorgfaltsstandards ("Behandlungsfehler"), die ursächlich gewesen sein könnten für diesen Schaden? Dem Juristen stellen sich folgende Fragen:
Indikation:
Gemäß der Sachverhaltsschilderung wies der Patient eine deutliche "Gasaustauschstörung (SpO2 < 80 %)" auf. Es wird weiter berichtet, dass es sich um einen geplanten Eingriff, d. h. eine zeitlich nicht dringliche Maßnahme, gehandelt hat. In der "Vereinbarung über die Zusammenarbeit bei der operativen Patientenversorgung des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten und des Berufsverbandes
Deutscher Chirurgen“ ist unter 1.1 festgelegt, dass der Chirurg über die Indikation zum Eingriff sowie über Art und Zeitpunkt der Operation entscheidet. Sodann wird festgelegt: "Der Anästhesist unterrichtet den Chirurgen umgehend, wenn aus der Sicht seines Fachgebietes Kontraindikationen gegen den Eingriff oder seine Durchführung zu dem vorgesehenen Zeitpunkt erkennbar werden. Die Entscheidung, ob der Eingriff dennoch durchgeführt werden muss oder aufgeschoben werden kann, obliegt dem Chirurgen. Wenn sich dieser entgegen den Bedenken des Anästhesisten für den Eingriff entschließt, so übernimmt er damit die ärztliche und rechtliche Verantwortung für die richtige Abwägung der indizierenden und der ihm vom Anästhesisten mitgeteilten kontraindizierenden Faktoren." Der Jurist wird hier an die Sachverständigen die Frage stellen, ob angesichts des vorgefundenen Befundes weitere Diagnostik und Therapie notwendig und damit ein entsprechender Hinweis an den Operateur zu geben war.
Wahl der Methode: Die Rechtsprechung erkennt zwar die ärztliche Therapie- und Methodenfreiheit an, allerdings endet die Methodenfreiheit dort, wo sich ein anderes Verfahren allgemein als überlegen, wirksamer und risikoärmer erwiesen hat. Weicht der Arzt von dieser Methode ab, dann muss das dadurch für den Patienten erhöhte Risiko sachlich zu rechtfertigen sein. In der Fallbeschreibung wird deutlich, dass die VIP u. a. deshalb gewählt wurde, weil der Anästhesist "eine niedrigere persönliche Erfolgsrate mit der axillären Plexusanästhesie" hatte. In der anästhesiologischen Analyse klingen Zweifel an, ob die Wahl der VIP bei einem Patienten mit schwerer COPD gerechtfertigt war, weil gerade die eingetretene Komplikation hier besonders zu fürchten war. Die fachliche Analyse deutet an, dass ein erfahrener Kollege das möglicherweise risikoärmere Verfahren gewählt hätte. Trifft dies zu, dann kann in der Nicht-Hinzuziehung eines "erfahreneren" Anästhesisten ein rechtliches Problem liegen. Aufklärungsproblematik: Auch wenn die Rechtsprechung dem Arzt die Therapiewahl zugesteht, verlangt sie doch dann, wenn es im konkreten Fall für den Patienten Alternativen mit deutlich unterschiedlichen Belastungen und Risiken gibt, dass der Patient darüber informiert und das Verfahren mit ihm festgelegt wird. Sind die beschriebenen Anästhesieverfahren ernsthaft in Betracht zu ziehende Alternativen mit unterschiedlichen Risiken und Belastungen, dann muss dies im Rahmen der Aufklärung des Patienten, zumal es hier um einen elektiven Eingriff ging, berücksichtigt werden. Dies hätte bei der Aufklärung des Patienten beachtet werden müssen. Nicht (rechtzeitig) erkannte Komplikation: Eine andere, hier nicht zu vertiefende Frage ist es, ob der Spannungspneumothorax nicht hätte früher erkannt werden können und müssen. Weiterführende Literatur:
Prof. Dr. med. W. Heinrichs, AQAI GmbH, Mainz Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Ass. iur. E. Weis, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Dipl.-Sozialw. T. Dichtjar, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Dr. med. M. St.Pierre, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen |