CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Extrem verlängerte Aufwachzeit bei einem Patienten mit Trichothiodystrophie
Befund: Wachstums- und geistige Retardierung (kommuniziert, geht zur Schule), Bewegungsstörungen und orofaciale Mißbildung, Körpergewicht etwas über 20 kg.
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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Extrem verlängerte Aufwachzeit bei einem Patienten mit Trichothiodystrophie
Patientenzustand:
Befund: Wachstums- und geistige Retardierung (kommuniziert, geht zur Schule), Bewegungsstörungen und orofaciale Mißbildung, Körpergewicht etwas über 20 kg.
Wichtige Begleitumstände:
Anamnese: Junger Patient mit Trichothiodystrophie (TTD), Gendefekt XP-D, kommt zur Elektivoperation in ITN. Eine Vornarkose vor wenigen Jahren sei (fremdanamnestisch) insofern besonders gewesen, weil einerseits ein "auffällig" geringer Narkosebedarf bestanden hätte und andererseits eine "auffällig lange Aufwachzeit" notwendig gewesen sei. Nach Angaben der Eltern würden bereits geringste Dosen Midazolam zur lang anhaltenden und tiefen Sedierung ausreichen. Die Leberwerte seien anamnestisch o.B.
Fallbeschreibung:
Narkoseverlauf: Die Maskeneinleitung erfolgte mit Sevofluran, ein venöser Zugang wurde in Narkose gelegt und zur Intubation wurden 50mg Propofol und 40 µg Ultiva gegeben. Im Anschluss lief ein Perfusor (Propofol 1%) mit einer Dosierung von ca. 10mg/kg/Std. und Ultiva ca. 10µ/kg/Std. Es bestand ein auffallend geringer Ventilationsbedarf. Die Narkosedauer betrug wegen unerwarteter operativer Probleme ca. 5 Stunden(!) mit weitgehend konstanten Kreislauf- und Ventilationsparametern. Nach Beendigung der Anästhetika-Zufuhr dauerte es ca. 30 min. bis zum Einsetzen einer Spontanatmung und weitere 30 min. bis zur Extubation. Es erfolgte der Transport in den Aufwachraum, wo der Patient in eine stabile Seitenlage gebracht wurde. Bei stabiler Herz- und Atemfrequenz und SpO2-Werten über 95% dauerte es weitere 60 min. bis zum Auftreten erster Spontanbewegungen, nochmals 60 min. bis zum ersten Augenöffnen, und weitere 30 min. bis zur ersten Kommunikation. Der gesamte Aufenthalt im Aufwachraum betrug fast 4 Stunden (Üblicherweise sind Patienten auch nach derartig langen Narkosen nach spätestens 60 min. ausreichend wach!).
Fazit: Der gesamte Aufwachvorgang war zwar in der Qualität der einzelnen Schritte normal, jedoch zeitlich extrem verlangsamt. Da die Spontanatmung von Beginn an mit akzeptabler Frequenz erfolgte, kann von einem Ultiva-Überhang m.E. abgesehen werden. Bleibt Propofol. Alles erinnert in seiner Langsamkeit an die überlange Wirkung von Succinylcholin bei Cholinesterasemangel, wobei im Fall von Propofol zusätzlich noch die Kumulation aufgrund der Dauerinfusion ztum Tragen kommt.
Recherche Literatur/Internet: keine Hinweise auf Narkose-Besonderheiten bei TTD-Patienten.
Einziger scheinbarer Zusammenhang: Unter http://de.wikipedia.org/wiki/Pharmakogenetik findet sich als ursächlich für eine veränderte Propofol-Kinetik eine verminderte Aktivität der Cytochromperoxydase 450 Subtyp 2B6, die auch bei TTD-Patienten auffällig ist. Hier findet man allerdings (da die meisten dieser Fälle unter dermatologischen Aspekten beschrieben sind) die Verminderung in cutanen Zellen. Es wäre zu klären, ob ein gehäuftes Auftreten von verzögerten Aufwachphasen bei TTD-Patienten in Einzelkasuistiken beschrieben wurde. Sollte sich der Verdacht eines Zusammenhangs zwischen TTD und den zugrunde liegenden Gen-Defekten und einem verzögerten Propofolabbau erhärten, wäre dieses Krankheitsbild eine klare Kontraindikation für die Verwendung von Propofol. Alternative wäre m. E. eine reine Gas-Narkose, ggf. kombiniert mit geeigneten Opiaten.
Die Analyse aus der Sicht des Anästhesisten
Zunächst einmal Lob und Anerkennung dem Kollegen, der bereits selbst in vorbildlicher Weise den Fall analysiert hat und eine Lösungsmöglichkeit für den unerwarteten Anästhetika-Überhang vorschlägt. Ganz offensichtlich ist dieses Kind mit TTD Syndrom deutlich verzögert aufgewacht. Es wurde in der ganzen Phase adäquat betreut, so dass keine Gefährdung des kleinen Patienten vorlag. Der Kollege kommt ferner zu dem vorsichtigen Schluss, dass durch eine verminderte Aktivität der Cytochromperoxydase 450 Subtyp 2B6 der Metabolismus von Propofol verlangsamt wurde. Er stellt die Frage, inwieweit Propofol bei einem Kind mit TTD ungeeignet / kontraindiziert sei und ob eine reine Inhalationsanästhesie z.B. mit Sevofluran die bessere Wahl gewesen wäre. Aufgrund der besonderen Kinetik von Remifentanil ist dem Kollegen zuzustimmen, dass die applizierte Menge des Opioids keinen Einfluss auf das verzögerte Aufwachen hatte.
Eine systematische Analyse des Falles soll zusätzlich noch folgendes beleuchten:
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Mögliche Gründe für ein unerwartet verzögertes Aufwachen aus Propofolanästhesie.
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Überlegungen zur Dosierung von Propofol im vorliegenden Fall
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Prävalenz von TTD im deutschen Patientengut
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Anästhesie bei TTD
Ad 1) Ein verzögertes Aufwachen nach Propofolanästhesie kann unterschiedliche Gründe haben. Tritt der Fall auf, so gilt die Empfehlung, zunächst metabolische Störungen (Blutglukose, Elektrolytstörungen, Störungen des Säure-Basen-Haushaltes) zu untersuchen. Können diese Faktoren ausgeschlossen werden, kann man auch an die versehentliche akzidentielle Falschinjektion von Medikamenten denken (z.B. CIRS-AINS Fallnr. 1445: Prolongierte Aufwachphase Kindernarkose Medikamentverwechselung; in diesem Fall wurde ein langwirkendes Muskelrelaxanz versehentlich an Stelle von NaCl injiziert). In der CIRS-AINS Datenbank werden auch Fälle von versehentlicher Applikation von Inhalationsanästhetika bei geplanter intravenöser Anästhesie berichtet: CIRS-AINS Fallnr. 1616: Verzögerte Ausleitungsphase bei nicht geschlossenem Sevofluran Vapor und CIRS-AINS Fallnr. 1753: Unklarer Narkoseüberhang - Offenen Verdampfer nicht beim Gerätecheck bemerkt. Sind alle diese Dinge ausgeschlossen, käme wohl bei entsprechenden Symptomen (z.B. auffällig dilatierte Pupillen) die Verdachtsdiagnose ZAS in Frage, die durch eine Probeinjektion von Physostigmin unter Beachtung möglicher Kontraindikationen ex juvantibus zu bestätigen bzw. abzulehnen wäre.
Ad 2) Die kontinuierliche Zufuhr von Propofol in konstanter Pumpenlaufgeschwindigkeit führt zu steigenden Plasma- und Effektorkonzentrationen des Pharmakons. Bei langer OP-Zeit (im vorliegenden Fall 5 h) unterscheidet sich die Konzentration am Ende der Infusionsphase deutlich von der Anfangssituation. Aufgrund der Angaben des Kollegen haben wir den zeitlichen Verlauf der Plasmakonzentration mit Hilfe der Software TIVATrainer® simuliert, in Abbildung 1 ist dies dargestellt. Selbst bei einem metabolisch gesunden Kind können so Aufwachzeiten von etwa 100 min beobachtet werden. Anzuerkennen ist die präzise Beschreibung des Kollegen, der die Anästhesie zwischen der 60 und 90 Minute aufgrund klinischer Beobachtung vertieft hat. Somit wurden für die Anästhesie wahrscheinlich Konzentrationen um ca. 4 µg/ml aufgrund klinischer Beobachtung benötigt. Ungewollt kumulierte das Medikament bis zum Anästhesieende auf fast 5 µg/ml.
Pharmakokinetik von Propofol (bei einem Kind von etwa 20 kg – uns liegen Alter, Geschlecht, Größe und Gewicht des Kindes im vorliegenden Fall für die Modellierung vor; aus Gründen der Anonymisierung nennen wir diese Daten hier nicht). Einleitungsdosis 50 mg Propofol, danach kontinuierlich 10 mg/kg/h; zwischen der Minute 60 – 90 mit 11,5 mg/kg/h (siehe Beschreibung im Fallbericht). Ende der Infusion nach 305 min. Simulation mit TivaTrainer® Version 8. Modell Kenny et al (Paedfusor); Br J Anaesthesia 2005:95(1): 110-13
Während einer 5-stündigen Anästhesie mit der angegebenen Dosis kommt es zu einer signifikanten Akkumulation von Propofol. Die Plasma- und Effektkonzentration steigt von initial 3mg/ml auf fast 5 µg/ml an. Nimmt man eine ungefähre Aufwachkonzentration (Augen Öffnen) von 1,4 µg/ml an, so ergibt sich eine Zeitspanne nach dem Ende der Propofolzufuhr von etwa 100 min. Die hier gezeigte Pharmakokinetik entspricht einem metabolisch gesunden Kind.
Wir haben keine Daten, wie sich die Konzentration von Propofol im vorliegenden Fall entwickelt hat, wenn aufgrund der TTD Erkrankung der Metabolismus im CYP2B6 System eingeschränkt war. Initial dürfte der Verlauf noch gut wiedergegeben sein, da Propofol zunächst umverteilt wird und dieser Effekt von metabolischen Einschränkungen eher nicht betroffen ist. Im weiteren Verlauf kann dann eine stärke Akkumulation postuliert werden, die letztendlich zu den extrem verlängerten Aufwachzeiten (Augen öffnen nach 180 min. und Kommunikation nach 210 min) führte.
Ad 3) Zur weiteren Information über TTD eignet sich eine Übersichtsarbeit von Faghri et al (2008) [2]. In dieser Arbeit wird von 112 Fällen mit TTD berichtet – 3 dieser Fälle stammen aus Deutschland. Die Beteiligung des CYP2B6-Systems wird in verschiedenen Publikationen zu TTD erwähnt. Eine Einschränkung im CYP2B6-System führt nachweislich zu veränderter Pharmakokinetik von Propofol [3].
Ad 4) In Pubmed wurde unter 312 Artikeln zu TTD ein Fallbericht über die Anästhesie bei einem TTD-Patienten gefunden [1]. Die Autoren anästhesierten ein Kind von 6 Jahren mit einem Körpergewicht von 15,4 kg nach einer Midazolam Prämedikation (0,5 mg/kg p.o.), Sevofluran und Fentanyl (0,5 µg/kg). Die Autoren beobachteten (abgesehen von erwartet erschwerten Intubationsbedingungen) keine anästhesiologischen Besonderheiten. Das Kind erwachte zeitgerecht und konnte nach 30 min. postoperativer Überwachung bereits nach Hause entlassen werden. Allerdings handelte es sich um einen kurzen Eingriff von nur 18 min. Dauer. Aufgrund dieser Erfahrung könnte eine Inhalationsanästhesie bei TTD-Patienten Vorteile aufweisen.
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Bei verzögertem Aufwachen nach Anästhesie systematisch nach Ursachen suchen (metabolische Störungen, Medikamentenverwechslung, Gerätecheck).
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Ex juvantibus die Verdachtsdiagnose „Zentral Anticholinerges Syndrom“ (ZAS) durch die Gabe von Physostigmin überprüfen.
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Bei TTD Propofol nicht über einen langen Zeitraum anwenden bzw. mögliche Akkumulation durch eingeschränkte Aktivität des CYP2B6-Systems bedenken; Inhalationsanästhetika könnten von Vorteil sein.
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Eltern eines Kindes mit TTD sollte ein Anästhesieausweis ausgestellt werden, in dem die Besonderheiten bei der Verwendung von Propofol notiert sind.
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Weiterführende Literatur:
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Demiralp G, Mayhew J (2007) Anesthesia management of a patient with Trichothiodystrophy. Pediatric Anesthesia, 17:1013–1014
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Faghri S, Tamura D, Kraemer KH, DiGiovanna JJ (2008) Trichothiodystrophy: a systematic review of 112 published cases characterises a wide spectrum of clinical manifestations. J Med Genet 45:609–621.
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Kirchheiner J, Klein C, Meineke I, Sasse J, Zanger UM, Mürdter TE, Roots I and Brockmöller J (2003) Bupropion and 4-OH-bupropion pharmacokinetics in relation to genetic polymorphisms in CYP2B6. Pharmacogenetics 13:619–626
Autoren:
Prof. Dr. med. W. Heinrichs, AQAI GmbH, Mainz
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Ass. iur. E. Weis, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Dichtjar, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dr. M. St. Pierre, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
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