Fall des Monats April 2013 |
15.05.2013 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Beinahe-Nadelstichverletzung wegen fehlenden Nadelhalters Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)Beinahe-Nadelstichverletzung wegen fehlenden Nadelhalters Wo ist das Ereignis eingetreten?Krankenhaus/EinleitungTag des berichteten Ereignisses:WochentagVersorgungsart:RoutineFallbeschreibung:
Ein Anästhesist legt einen ZVK. Beim Annähen des ZVK durchstach die Nadel während des Wieder-Ausstechens aus der Haut des Patienten die sterilen Handschuhe des Anästhesisten. Das Loch im Handschuh war deutlich zu erkennen, allerdings konnte durch Druck auf die Fingerbeere des Anästhesisten keine Blutung angeregt werden, sodass auf eine D-ärztliche Vorstellung verzichtet wurde. Leider war auf dem ZVK-Set kein Nadelhalter vorhanden. Auf Nachfrage des Anästhesisten an die assistierende Pflegekraft erhielt er die Information, dass das Instrument vonseiten der Abteilungsleitung aus Kostengründen nicht für diese Prozedur vorgesehen sei. Was war besonders ungünstig? Zeitdruck bei Anlage des ZVK, da der OP-Saal bereits frei war.Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?Aus Gründen des Infektionsschutzes und der Prävention von Nadelstichverletzungen sollten stets (Einmal-)Nadelhalter bei der Annaht von Kathetern verwendet werden und damit routinemäßig jedem ZVK-Set beiliegen. Die größte Gefahr der Verletzung besteht beim Wieder-Ausstechen aus der Haut. Zum Verletzungszeitpunkt hatte die Nadel bereits Kontakt mit dem Blut des Patienten und stellt somit eine potenzielle Infektionsgefahr für den Anästhesisten dar. Vermeintlich ökonomische Überlegungen müssen dem Schutz der Mitarbeiter hier nachgeordnet sein!Häufigkeit des Ereignisses?Jede WocheWer berichtet?Ärztin/ArztBerufserfahrung:über 5 JahreDie Analyse aus Sicht des AnästhesistenBei dem Thema Risikomanagement wird häufig eine Fokussierung auf Patientensicherheit beobachtet, aber natürlich ist die Erhöhung der Mitarbeitersicherheit auch Teil des Risikomanagements! Der Fall hat auch zusätzlich hohe Brisanz, da zurzeit die gesetzlichen Rahmenbedingungen geändert werden. Verletzungen von Mitarbeitern im Gesundheitswesen durch scharfe, potenziell infektiöse Arbeitsutensilien sind häufig. Wahrscheinlich kann sich nahezu jeder daran erinnern, dass es ihm bereits selber widerfahren ist. Ein kurzer Moment der Ablenkung oder des Konzentrationsmangels genügt und schon ist es passiert. Insbesondere die unter Anästhesisten beliebten langen, geraden Nadeln sind oft beteiligt. Meist wird das Risiko einer Infektion durch den Verletzten bagatellisiert oder ignoriert. Thema dieses Falls des Monats soll nicht das Vorgehen nach Nadelstichverletzungen sein (z.B. Postexpositionsprophylaxe, D-Arzt Meldung, etc.). Hierzu ist erst kürzlich ein informativer Artikel im Deutschen Ärzteblatt erschienen [1]. Die Autoren des Artikels berichten auch über erschreckende Inzidenzen und Infektionsrisiken.In Deutschland existieren verbindliche, gesetzliche Regelungen zum Mitarbeiterschutz, die von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA – www.baua.de) herausgegeben werden. Veröffentlicht werden diese im Gemeinsamen Ministerialblatt (GMBI), dem Bekanntmachungsorgan der Bundesregierung und der Bundesministerien. Das sich mit der Thematik beschäftigende Schriftwerk trägt den Namen „Technische Regeln für Biologische Arbeitsstoffe im Gesundheitswesen und in der Wohlfahrtspflege“ (TRBA 250). Umfragen zeigen leider, dass die Umsetzung der Arbeitsschutzmaßnahmen noch nicht den gewünschten Durchdringungsgrad hat [2]. Der Gesamttext der verbindlichen Verordnung kann über die Homepage der BAuA eingesehen werden [3]. In dem Abschnitt 4.2.4 wird gefordert: „Um Beschäftigte vor Verletzungen bei Tätigkeiten mit spitzen oder scharfen medizinischen Instrumenten zu schützen, sind diese Instrumente unter Maßgabe der folgenden Ziffern 1 bis 7 – soweit technisch möglich – durch geeignete sichere Arbeitsgeräte zu ersetzen, bei denen keine oder eine geringere Gefahr von Stich- und Schnittverletzungen besteht.“ Konkret heißt dies für die Anästhesie:
Die EU-Direktive fordert:
"Gefördert wird eine Kultur der Vermeidung von Schuldzuweisungen. Das Verfahren zur Meldung von relevanten Zwischenfällen sollte nicht auf individuelle Fehler, sondern auf systemische Faktoren ausgerichtet sein. Die systematische Meldung ist als akzeptiertes Verfahren anzusehen." Was bedeutet dies nun für den Arbeitgeber und den Arbeitnehmer? Arbeitgeber: Der Arbeitgeber ist bereits heute – spätestens aber ab dem 11.05.2013 – verpflichtet, entsprechende Utensilien anzuschaffen. Hierzu sagt die „alte“ TRBA 250: „Die Auswahl der sicheren Arbeitsgeräte hat anwendungsbezogen zu erfolgen, auch unter dem Gesichtspunkt der Handhabbarkeit und Akzeptanz durch die Beschäftigten. Arbeitsabläufe sind im Hinblick auf die Verwendung sicherer Systeme anzupassen.“ Arbeitgeber zitieren häufig diese Passage mit der Bemerkung „Ich würde ja, aber meine Mitarbeiter wollen die Sicherheitsutensilien nicht.“ Das mag natürlich gelegentlich richtig sein, aber der Arbeitgeber hat „sicherzustellen, dass Beschäftigte in der Lage sind, sichere Arbeitsgeräte richtig anzuwenden. Dazu ist es notwendig, über sichere Arbeitsgeräte zu informieren und die Handhabung sicherer Arbeitsgeräte zu vermitteln.“ Zuletzt muss er „die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen […] überprüfen.“ Die genannten Aspekte Schulung und Überprüfung der Wirksamkeit werden bisher nur selten durchgeführt bzw. angeboten. Die EU-Direktive formuliert den Lehrauftrag schärfer. Hier wird der Arbeitgeber „[…] verpflichtet, eine für die Arbeitnehmer obligatorische Unterrichtung und Unterweisung zu organisieren und anzubieten“ [4]. Damit verliert aber auch das Argument der geringen Akzeptanz seine Wirkung, denn es ist jedem klar, dass Veränderungen immer mit einem Lehrauftrag verbunden sind. Schlussfolgerungen für den Arbeitgeber: Viele Arbeitgeber wählen die Minimallösung, indem sie die entsprechenden Sicherheitsutensilien neben den üblichen vorhalten. Hier gilt das Motto: Wenn der Arbeitnehmer sich schützen will, dann kann er es. Wenn er die Utensilien nicht verwendet, dann ist es nicht meine Sache. Besser ist es, grundsätzlich auf die entsprechenden Sicherheitsutensilien umzustellen und die Mitarbeiter aus Mangel an Alternativen zu zwingen, diese zu verwenden. Zur Erinnerung: In der Neufassung der TRBA 250 werden Sanktionsmöglichkeiten enthalten sein. Arbeitnehmer: Die Handhabung der „Sicherheitswerkzeuge“ ist häufig anders als gewohnt. Liebgewonnene, manuelle Handlungen müssen verändert werden. Deshalb ist bei vielen Arbeitnehmern ein gewisser Widerstand zu beobachten, der in der Regel schnell nachlässt, wenn der- oder diejenige sich selbst verletzt und vielleicht zusätzlich eine Infektionsgefahrvon dem Instrument ausgeht. Schlussfolgerungen für den Arbeitnehmer: Keiner fährt mehr ohne Sicherheitsgurt Auto, die meisten setzen mittlerweile einen Helm beim Fahrradfahren auf. Warum sollte man mit Utensilien hantieren, an denen man sich selber verletzen kann und die evtl. infektiös sind, wenn es sichere Alternativen gibt? Das Gegenteil muss der Fall sein: Der Arbeitnehmer hat das Recht, diese Utensilien einzufordern (siehe Fall) und sollte dies auch tun. Daneben sollte jeder unbedingt die ihm kostenlos zustehenden Impfungen im Sinne einer Präexpositionsprophylaxe (z.B. Hepatitis B) wahrnehmen bzw. diese einfordern. Die Analyse aus Sicht des JuristenDer vorgestellte Fall erhellt schlaglichtartig, dass dem „Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit“ (Arbeitsschutzgesetz) in der Praxis leider nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dies gilt sowohl für die Arbeitgeber- als auch für die Beschäftigtenseite. So ist der Arbeitgeber gem. § 3 ArbSchG grundlegend verpflichtet, erforderliche Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu treffen und insbesondere auch dafür erforderliche Mittel bereitzustellen. Umgekehrt verpflichtet § 15 ArbSchG die Beschäftigten, insbesondere ihnen tatsächlich zur Verfügunggestellte Arbeitsmittel bestimmungsgemäß zu verwenden. Beispielsweise insofern festzustellende Defizite sind dem Arbeitgeber unverzüglich zu melden (§ 16 ArbSchG). Gem. § 17 ArbSchG sind die Beschäftigten zudem berechtigt, dem Arbeitgeber Vorschläge zu allen Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit zu machen. Vor diesem Hintergrund gilt das kurze Resümee zum o.a. Fall: Vorhandene Maßgaben und Arbeitsmittel zur Gewährleistung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit sind um- bzw. einzusetzen; festgestellte Defizite sind unverzüglich zu melden, damit Abhilfe geschaffen werden kann. Weiterführende Literatur: 1. Himmelreich H, Rabenau HF, Rindermann M, Stephan C, Bickel M, Marzi I, Wicker S: The management of needlestick injuries. Dtsch Arztebl Int 2013;110:61-7 2. Lücken im Mitarbeiterschutz. Eine Um- frage zum „Schutz vor Nadelstichverletzungen im Krankenhaus“ verdeutlicht Handlungsbedarf. Management & Krankenhaus 2011;11:34 3. http://www.baua.de/cae/servlet/contentblob/ 672990/publicationFile/47827/ TRBA-250.pdf 4. Richtlinie 2010/32/EU des Rates zur Durchführung der von HOSPEEM und EGÖD geschlossenen Rahmenvereinbarung zur Vermeidung von Verletzungen durch scharfe/spitze Instrumente im Krankenhaus- und Gesundheitssektor. Amtsblatt der Europäischen Union 2010; 53(L134):66-72. Autoren: Prof. Dr. med. M. Hübler Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden Prof. Dr. med. A. Schleppers Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Rechtsanwalt R.-W. Bock Kanzlei Ulsenheimer - Friederich, Berlin Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Dr. med. M. St.Pierre Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen |