CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
„Timing“: Gabe von Muskelrelaxans vor dem Hypnotikum
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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
„Timing“: Gabe von Muskelrelaxans vor dem Hypnotikum
Wo ist das Ereignis eingetreten?
Krankenhaus/Einleitung
Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag
Versorgungsart:
Routine
ASA-Klassifizierung:
ASA I
Patientenzustand:
gesund
Fallbeschreibung:
Der Anästhesist spritzte das nicht depolarisierende Muskelrelaxans noch vor der Gabe von Analgetikum und Hypnotikum. Als Grund wird Zeitgewinn angegeben.
Was war besonders gut?
Der Patient ließ sich intubieren und im Vorfeld mit der Maske beatmen.
Häufigkeit des Ereignisses?
fast täglich
Wer berichtet?
Pflegekraft
Berufserfahrung:
über 5 Jahre
Die Analyse aus Sicht des Hygienikers und des Anästhesisten
Im genannten Fall wird vom Melder die für ihn wohl ungewöhnliche Strategie des "Timing" bei der Gabe von Muskelrelaxantien berichtet. Das Motiv des Vorgehens war ein nicht näher dargestellter Zeitgewinn.
Die Datenlage zur aktuellen Praxis des Gebrauchs von Muskelrelaxantien in Deutschland berücksichtigt die zwischenzeitliche Verfügbarkeit von Sugammadex nicht [1, 2]. Als die beiden grundsätzlichen Extrempositionen müssen wohl der vollständige Verzicht auf neuromuskuläre Blockade auf der einen Seite und die neuromuskuläre Blockade vor Gabe des Hypnotikums auf der anderen Seite gelten. Nationale oder internationale Empfehlungen zur Durchführung der neuromuskulären Blockade existieren nicht, allerdings sind Empfehlungen zum neuromuskulären Monitoring vorhanden [3], welches auch bei der Narkoseeinleitung mit nichtdepolarisierenden
Muskelrelaxantien anwendbar ist.
Es existieren traditionell drei theoretisch mögliche Techniken, um zu einer Wirkungsbeschleunigung von nichtdepolarisierenden Muskelrelaxantien zu kommen: "Timing"-Technik mit der initialen Applikation der gesamten Intubationsdosis des Muskelrelaxans in einem relaxansspezifisch festgelegten Intervall vor der Injektion des Hypnotikums, "Priming"-Technik mit der Applikation einer geringen, subparalytischen Vorabdosis des Muskelrelaxans vor Injektion des Hypnotikums und anschließender Applikation der Hauptdosis des Muskelrelaxans sowie die „Megadose“-Technik mit Applikation einer deutlich gesteigerten Intubationsdosis des Muskelrelaxans.
Unter den o. g. Techniken ist die „Megadose“-Technik unumstritten und z. B. bei der RSI mit Rocuronium etabliert. Hier wird die drei- bis vierfache ED95 zur Wirkbeschleunigung eingesetzt.
Ein entscheidender Nachteil ist die durch die hohe Dosis erkaufte Verlängerung der neuromuskulären Blockade. Besondere Risiken für den Patienten könnten theoretisch lediglich in einer höheren Wahrscheinlichkeit klinisch relevanter Histaminfreisetzungen bei hoher Dosis einiger auf dem Markt befindlicher Muskelrelaxanzien (Atracurium, Mivacurium) und gleichzeitig schneller Injektion bestehen. Zudem ist nur bei Rocuronium und Vecuronium die Reversierung einer Vollwirkdosis des Muskelrelaxans mit Sugammadex möglich. Beim Einsatz dieser Technik mit anderen Muskelrelaxanzien als Rocuronium oder Vecuronium besteht bei einer Can not intubate Situation allerdings keine Möglichkeit, als Rückfallebene innerhalb einer kurzen Zeitspanne zur Spontanatmung zurückzukehren.
Generell sind die Anschlagszeiten von nichtdepolarisierenden Muskelrelaxantien sehr individuell, an Muskelgruppen stark unterschiedlich und situativ von Muskelnutzung und -durchblutung sowie Herzzeitvolumen und anderen Faktoren abhängig [4, 5]. Die in Lehrbüchern angegebenen Anschlagszeiten stellen somit nur statistische Mittelwerte dar, während der tatsächliche Verlauf der neuromuskulären Blockade nur über eine kontinuierliche Relaxometrie zu erfassen ist. Dies hat eine große Bedeutung für die klinische Bewertung von "Priming" und "Timing".
„Priming“ und „Timing“ haben gemeinsam, dass bereits vor dem Verlust des Bewusstseins Muskelrelaxans gegeben wird. Das damit verbundene Hauptrisiko ist eine frühzeitige neuromuskuläre Blockade bei vollem Bewusstsein. Neben dem Erleben der neuromuskulären Blockade sind dann möglicherweise einerseits die Spontanatmung, andererseits aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Schutzreflexe kompromittiert. Hier wären auch Szenarien vorstellbar, in denen bei Verlust des venösen Zugangs nach Applikation des Relaxans (z. B. Wegziehen des Arms durch Patienten mit Verlust des Zugangs auf den Injektionsschmerz nach Applikation der Timingdosis Rocuronium) oder einer Anstauung durch eine am gleichen Arm angelegten Blutdruckmanschette das Hypnotikum nicht oder nicht rechtzeitig seine Wirkung entfalten kann, sowie der leere Infusionsbeutel, der bewirkt, dass das Hypnotikum nicht zeitnah in die Vene des Patienten gespült wird. Ein denkbares Extremszenario ist stressinduziertes Erbrechen bei dann nicht geschütztem Luftweg. Eine psychische Traumatisierung des Patienten läge auch bei weniger
dramatischen Szenarien nahe. Eine rasche Rückkehr zur Spontanatmung ist dann nur bei Rocuronium und Vecuronium über eine Reversierung mit Sugammadex sicher möglich.
Die „Priming“-Technik beschreibt die Applikation einer subparalytischen Dosis eines nichtdepolarisierenden Muskelrelaxans 2–6 min. vor Applikation der eigentlichen Intubationsdosis, um die Anschlagszeit zu verkürzen, ohne die Gesamtwirkdauer der NMB im Vergleich zur Bolusapplikation zu verlängern [6].
„Timing“ bedeutet, dass die gesamte Dosis des Muskelrelaxans vor dem Hypnotikum gegeben wird. Das klassische Verfahren beinhaltet eine Wartezeit bis zum Einsetzten einer Muskelschwächevor der Injektion des Hypnotikums [7, 8]. Es ist in der Literatur eine neuere Modifikationen zur RSI dargestellt und untersucht worden [9]. Hier wurde das Muskelrelaxans als zweifache ED95 unmittelbar vor dem Hypnotikum gegeben, und damit eine "Megadose"vermieden.
Eine in der anästhesiologischen Ausbildung und Praxis weit verbreitete Maßnahme zur Patientensicherheit ist die Injektion des Muskelrelaxans unter ausreichend tiefer Hypnose und erst nach Etablierung einer suffizienten Maskenbeatmung. Die Wirksamkeit dieser Sicherheitsmassnahme wurde jüngst angezweifelt und zur Diskussion gestellt, unter anderem da eine Rückkehr zur Spontanatmung bei Beatmungsproblemen nicht regelhaft zu erwarten sei [10]. Das Vorgehen muss jedoch weiterhin als verbreitet gelten und kann abhängig vom verwendeten Hypnotikum und Dosis des Hypnotikums eine Sicherheitsreserve bieten.
Inwieweit ein relevanter Zeitvorteil aus dem klassischen oder modifizierten Verfahren erwächst, ist aufgrund der hohen interindividuelle Varianz der Anschlagszeiten bei neuromuskulärer Blockade zweifelhaft. Allein zur Verbesserung von Prozesszeiten Risiken für den Patienten in Kauf zu nehmen, scheint nicht angezeigt. Der resultierende zeitliche Vorteil für die Herstellung einer Intubationsbereitschaft durch Injektion eines Muskelrelaxans unmittelbar vor dem Hypnotikum wird sich im Bereich von wenigen Minuten bewegen, hat aber die oben dargestellten Risiken für die Sicherheit des Patienten.
Das klassische Verfahren der „Timing“-Technik hat ein schlechtes Nutzen-Risiko-Verhältnis und erscheint im Sinne der Patientensicherheit nicht empfehlenswert. Die geringe Zahl der diesbezüglichen Publikationen aus Europa lässt annehmen, dass die Technik weitgehend hierzulande weitgehend verlassen wurde. Die modifizierten Formen der „Timing“-Technik mit Gabe des Muskelrelaxans unmittelbar vor der Hypnoseinduktion reduzieren die verfahrenstypischen Risiken, die jedoch grundsätzlich bestehen bleiben. Im hier diskutierten Fall ist der zeitliche Ablauf nicht genau beschrieben, so dass keine konkrete Bewertung des Vorgehens möglich ist. Allgemein sollte jedoch die Bestrebung, Risiken für den Patienten auszuschließen, die Richtschnur für die Wahl der anästhesiologischen Verfahren und Techniken sein.
Die Analyse aus Sicht des Juristen
Wie das Oberlandesgericht Koblenz (VersR 1994, S. 353) schuldet der Arzt dem ihm anvertrauten Patienten die bestmögliche medizinische Versorgung, dazu gehört grundsätzlich die schnellstmögliche Anwendung der wirksamsten Therapie und weitest möglicher Verkürzung des Krankheitsverlaufs.
Jedoch schreiben weder Gesetz noch Rechtsprechung dem Arzt bestimmte Methoden vor. Die Rechtsprechung bekennt sich zum Prinzip der Nichteinmischung des Rechts in die medizinischen Fachfragen. Im Rahmen der Methoden- und Therapiefreiheit entscheidet der Arzt nicht nur darüber, ob überhaupt eine Behandlung stattfinden soll, er auch nicht zu einer seinem Gewissen widersprechenden Methode oder Therapie gezwungen werden, und schließlich bleibt es „stets seine Aufgabe, die ihm geeignet erscheinende diagnostische oder therapeutische Methode auszuwählen (Katzenmeier in: Lauffs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 6. Auflage 2009, Kap. X, RN 62). So fragen die Gerichte in der Regel bei der Beurteilung eines Zwischenfalles auch nicht nach der „richtigen“, sondern nach der „vertretbaren“ Entscheidung des Arztes (BGH, NJW 1987, S. 2291). Allerdings: Die Methoden- und Therapiefreiheit ist „nicht eine Privilegierung des Arztes, sondern … ein fremdnütziges Recht zugunsten des Patienten und dessen Anspruch auf Optimierung seiner Behandlung“ (Katzenmeier am angegebenen Ort, RN 70). Der Arzt hat also bei der Auswahl der Methode gewissenhaft Vorteile und Nachteile, Nebenwirkungen und Risiken der Methode (Risiko-Nutzen-Verhältnis) zu bewerten. „Der Arzt ist auch nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt … allerdings muss ein höheres Risiko in den besonderen Sachzwängen des konkreten Falls oder in einer günstigeren Heilungsprognose eine sachliche Rechtfertigung finden“ (Steffen, E./Pauge, B.: Arzthaftungsrecht – Neuentwicklungslinien
der BGH-Rechtsprechung, 12. Auflage 2013, RN 189). Oder anders: „Ihre Grenze findet die Freiheit der Methodenwahl dort, wo die Überlegenheit eines bestimmten Verfahrens allgemein anerkannt ist“ (Katzenmeier, am angegebenen Ort, RN 74).
Im Spannungsverhältnis zwischen dem Wirtschaftlichkeitsgebot und den Sorgfaltspflichten hat der Bundesgerichtshof – bezogen auf personelle Engpässe, das Urteil kann aber auf alle anderen Mängel in der Strukturqualität entsprechend angewendet werden – festgehalten: „Hier ging die Sicherheit des Patienten allen anderen Gesichtspunkten vor, der gebotene Sicherheitsstandard durfte nicht etwaigen personellen Engpässen geopfert werden …“ (BGH, NJW 1983, S. 1374).
Wenn es so ist, dass das Prinzip des Timing in der klinischen Medizin inzwischen fast vollständig verlassen worden ist, weil es nicht nur höchst unangenehm für die Patienten sondern auch risikoreich ist, dann ist die Auswahl dieses Verfahrens jedenfalls nicht mit Hinweis auf Wirtschaftlichkeitserwägungen im Sinne eines Zeitgewinns zu rechtfertigen.
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Durch "Timing" werden vermeidbare Risiken eingegangen.
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Diese Risiken können die Patientensicherheit und das Erleben der Narkoseeinleitung relevant negativ beeinflussen.
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Die Nutzung zur Optimierung von Prozesszeiten ist nicht zu rechtfertigen.
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Die Technik des "Timing" erscheint insbesondere zur elektiven Narkoseeinleitung nicht empfehlenswert.
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Weiterführende Literatur:
[1] Fink H, Geldner G, Fuchs-Buder T, Hofmockel R, Ulm K, Wallek B, Blobner M (2006) [Muscle relaxants in Germany 2005: a comparison of application customs in hospitals and private practices]. Der Anaesthesist 55:668-678
[2] Gelder G, Fuchs-Buder T, Hofmockel R, Diefenbach C, Ulm K, Blobner M (2003) [The use of muscle relaxants for routine induction of anaesthesia in Germany]. Der Anaesthesist 52:435-441
[3] Fuchs-Buder T, Meistelman C (2009) [Monitoring of neuromuscular block and prevention of residual paralysis]. Annales francaisesd’anesthesie et de reanimation 28 Suppl 2:S46-50
[4] Fuchs-Buder T, Claudius C, Skovgaard LT, Eriksson LI, Mirakhur RK, Viby-Mogensen J (2007) Good clinical research practice in pharmacodynamic studies of neuromuscular blocking agents II: the Stockholm revision. Acta anaesthesiologica Scandinavica 51:789-808
[5] Fuchs-Buder T, Fink H, Hofmockel R, Geldner G, Ulm K, Blobner M (2008) [Application of neuromuscular monitoring in Germany]. Der Anesthesist 57:908-914
[6] Schmidt J, Albrecht S, Petterich N, Fechner J, Klein P, Irouschek A (2007) [Priming technique with cisatracurium Onset time at the laryngeal muscles]. Der Anaesthesist 56:992-1000
[7] Sieber TJ, Zbinden AM, Curatolo M, Shorten GD (1998) Tracheal intubation with rocuronium using the „timing principle“. Anesth Analg 86:1137-1140
[8]Chatrath V, Singh I, Chatrath R, Arora N (2010) Comparison of intubating conditions of rocuronium bromide and vecuronium bromide with succinylcholine using „timing principle“. J AnaesthesiolClinPharmacol 26:493-497
[9] Kwon MA, Song J, Kim JR (2013) Tracheal intubation with rocuronium using a “modified timing principle”. Korean J Anesthesiol 64:218-222
[10] Jacomet A, Schnider T (2012) [Mandatory mask ventilation before relaxation. Where is the evidence?]. Der Anaesthesist 61:401-406
Autoren:
PD Dr. med. T. Birkholz, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
Prof. Dr. med. J. Schmidt, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg |