CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Kritisch kranker Patient: Notfallausrüstung unvollständig
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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Kritisch kranker Patient: Notfallausrüstung unvollständig
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?
Notarztdienst
Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag
Versorgungsart:
Notfall
ASA-Klassifizierung:
ASA I
Patientenzustand:
Herzrasen, wach, ansprechbar, orientiert. Radialispuls gut tastbar.
Wichtige Begleitumstände:
Wohnung im 2. OG
Fallbeschreibung:
Übergabe durch die Rettungsassistenten: Patient mit Herzrasen, Blutdruck sei nicht messbar. Angeschlossen war ein Überwachungsmonitor mit EKG, NIBP und SpO2. Herzfrequenz am Monitor um 240/Minute, Schmalkomplextachykardie. i.v.-Zugang bereits gelegt. Auf die Bitte, den Blutdruck nach RR zu messen, wurde mitgeteilt, dass der Notfallrucksack bereits wieder im RTW war, da man den Tragestuhl geholt habe. Somit fehlte neben einer Blutdruckmanschette mit Ausnahme des Überwachungsmonitors die Grundausstattung zur Versorgung eines kritisch Kranken.
Was war besonders ungünstig?
Bei Tachykardie und Hypotension (RR dann 80/60mmHg - problemlos messbar) ist eine Zustandsverschlechterung jederzeit möglich, eine Versorgungsmöglichkeit wäre mangels Notfallrucksack nicht mehr gegeben gewesen.
Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?
Zwingend kontinuierliche Überwachung kritisch kranker Patienten, zwingend Vorhaltung der Grundausstattung im Notfallrucksack zur unmittelbaren Versorgung bei eventuell eintretender Zustandsverschlechterung. Kein vorzeitiges Verbringen der Ausstattung in ein entferntes Fahrzeug aus Bequemlichkeit, um einen Gang zu sparen.
(Adäquate) Schulung der Rettungsassistenten zum Erkennen kritisch kranker Patienten und zur Einsatztaktik sowie der Bedeutung einer kontinuierlichen Überwachung.
Häufigkeit des Ereignisses?
jeden Monat
Wer berichtet?
Ärztin/Arzt
Berufserfahrung:
über 5 Jahre
Die Analyse aus Sicht des Anästhesisten
Der Titel des Originalfalles „Kritisch kranker Patient: Notfallausrüstung unvollständig“ spiegelt die Konsequenz einer Kette von kritischen Entscheidungen wieder. Am Anfang steht in der Schilderung ein kritisch kranker und instabiler Patient, und am Ende eine Situation, in der zusätzlich bei einer Verschlechterung kein rasches Eingreifen möglich gewesen wäre. Die Patientensicherheit war gefährdet.
Wenn man den Fall anhand der geschilderten objektiven Kriterien betrachtet, ist die Risikosituation für den Patienten eindeutig. Es handelt sich um eine hämodynamisch relevante, tachykarde Herzrhythmusstörung mit einer Herzfrequenz von 240/min. Der vom Notarzt nach Riva-Rocci ermittelte Blutdruck lag bei 80/60 mmHg. Das Herzzeitvolumen war bei diesem Patienten noch ausreichend, um die Hirnperfusion (wach, orientiert) sicherzustellen und einen Radialispuls zu erzeugen. Allerdings ist dies bei einer solch hohen Herzfrequenz nur bei einem gesunden Herzen zu erwarten. Auf eine jederzeit drohende Zustandsverschlechterung hatte der Melder hingewiesen, konkret kann eine anhaltende Frequenz in dieser Höhe oder eine weitere Steigerung in eine unmittelbare Dekompensation münden. Zudem ist immer mit einer folgenden malignen Herzrhythmusstörung zu rechnen. Die Zahl der vital bedrohlichen rhythmologischen Differentialdiagnosen - unter anderem Präexitationssyndrome - ist in diesem Fall groß. Die Schilderung macht eine supraventrikuläre Rhythmusstörung wahrscheinlich. Eine umfassende Übersicht und Behandlungsempfehlungen geben die Leitlinien der ESC zur Behandlung supraventrikulärer Rhythmusstörungen von 2003 (1), in der Kurzfassung bereits über 50 Seiten stark. Voraussetzung für eine Einordnung der Rhythmusstörung ist ein 12-Kanal-EKG. Die ESC empfiehlt ein 12-Kanal-EKG während der Arrhythmie, wenn die dadurch bedingte Verzögerung klinisch vertretbar ist [1].
Das Team des Rettungswagens konnte zunächst keinen Blutdruck messen und hatte es dabei belassen. Ein 12-Kanal-EKG ist nicht berichtet, möglicherweise war auch die Zeit bis zum Eintreffen des Notarztes zu kurz. Bei Eintreffen des Notarztes war bereits ein Zugang gelegt und der Notfallrucksack in den nur über zwei Stockwerke erreichbaren RTW verbracht worden. Im gleichen Schritt war mit dem Sitzstuhl ein Transport zum RTW vorbereitet worden.
Zunächst ist aus notfallmedizinischer Sicht in der so geschilderten Situation stets eine unmittelbare Wiederbelebungsbereitschaft mit Vorhaltung der gesamten Ausrüstung, aber insbesondere des Notfallrucksacks unabdingbar.
Der Fall bietet aber einige kritischen Entscheidungspunkte, die in der Folge herausgearbeitet und in Zusammenhang gesetzt werden sollen:
Entscheidungspunkt 1 – Diagnostik und Patienteneinschätzung: Der Melder nimmt an, dass die kritische Lage des Patienten nicht erkannt wurde. Auf jeden Fall hat sich die RTW-Besatzung nicht durchgängig am kritischen Patientenzustand orientiert.
Für das Erkennen der kritischen Lage durch die Rettungswagenbesatzung spricht, dass bereits ein Infusionszugang lag. Als Notkompetenzmaßnahme war dies geeignet, um nachfolgend eine rasche Möglichkeit einer medikamentösen Behandlung für den Patienten durch den Notarzt sicherzustellen. Somit war dies mittelbar eine potentiell lebensrettende Sofortmaßnahme.
Gegen die Erkenntnis einer kritischen Patientensituation spricht, dass die Besatzung keine weiteren Bemühungen unternahm, einen Messwert für den Blutdruck zu ermitteln. Möglicherweise hatten dem Team der palpable Radialispuls und der neurologisch unauffällige Patient als Anhalt für eine stabile Situation ausgereicht. Aber: Trotz einer durchgeführten invasiven Maßnahme war die Diagnostik nicht vervollständigt. Im vorgestellten Fall ist davon auszugehen, dass das automatische nichtinvasive Blutdruckmessgerät aufgrund der Arrhythmie bzw. sehr schnellen Tachykardie in Verbindung mit dem niedrigen Blutdruck keinen Wert messen konnte. Die Messung über eine Blutdruckmanschette und ein Stethoskop (behelfsweise über die Palpation der Arteria radialis) stellt dann das für das RTW-Team gebotene Reserveverfahren dar. Der meldende Notarzt hatte in der Schilderung konsequenterweise diese Messung nach Riva-Rocci (RR) verlangt. Zu diesem Zeitpunkt fiel dann auf, dass sich der Notfallrucksack bereits im weit entfernten RTW befand, und ein Transport mittels Sitzstuhl vorbereitet war.
Im Rettungsassistentengesetz (RettAssG) und der zugehörigen Ausbildungsverordnung (RettAssAPrV) sind Patientenbeurteilung und Basisdiagnostik ein vordringliches Ausbildungsziel. §3 RettAssG regelt das Ausbildungsziel: „Die Ausbildung soll (…) insbesondere dazu befähigen, am Notfallort bis zur Übernahme der Behandlung durch den Arzt lebensrettende Maßnahmen bei Notfallpatienten durchzuführen, die Transportfähigkeit solcher Patienten herzustellen, die lebenswichtigen Körperfunktionen während des Transports zum Krankenhaus zu beobachten (...)“. Dieses Ausbildungsziel ist im Berufsbild des Notfallsanitäters konkretisiert. In §4 Abs. 2 NotSanG soll der künftige NotSan das „Beurteilen des Gesundheitszustandes von erkrankten und verletzten Personen, insbesondere Erkennen einer vitalen Bedrohung…“ beherrschen. Insofern wäre die manuelle Blutdruckmessung zu erwarten gewesen – auch wenn der Patient vordergründig stabil erschien.
Entscheidungspunkt 2 –Transportentscheidung: Die vordergründige Stabilität des Patienten und der palpable Radialispulses könnte – hypothetisch - einen Grund für den bereits vorbereiteten Transport darstellen, wenn man einen fälschlichen Analogschluss zur präklinischen Traumaversorgung annimmt. Ein vorhandener Radialispuls würde bei präklinischen Traumakursformaten – verkürzt gesagt – die Annahme nahelegen, dass der Patient aktuell nicht kritisch ist und ohne Maßnahmen transportiert werden könnte, weil noch keine unmittelbare schwere Kreislaufdepression vorliegt. Dieses Vorgehen ist nicht ohne weiteres auf einen internistischen Notarzteinsatz zu übertragen. Im vorliegenden Fall ist die entscheidende Größe die Rhythmusstörung mit einer unmittelbaren drohenden Verschlechterung des ohnehin niedrigen Blutdruckes. Die Rhythmusstörung wäre möglicherweise vor Ort ärztlich behandlungspflichtig, und das akute Bild könnte ggf. auch definitiv behandelt werden.
Ein vom RTW-Team vorbereiteter schneller Transport war nicht angezeigt, sondern ist jeweils eine individuelle Arztentscheidung. Ein Transport wäre dann legitim, wenn das Warten auf den Notarzt eine medizinisch relevante Verzögerung bei einer zeitkritischen Erkrankung bedeutet und eine definitive ärztliche Therapie in einer geeigneten klinischen Einrichtung rascher zu erreichen ist (z.B. bei einem Schlaganfall oder einem Myokardinfarkt). Auch bei einer Transportentscheidung ist immer die vorherige Durchführung einer angemessenen Diagnostik (RR-Messung), stetige Wiederbelebungsbereitschaft und ein kontinuierliches Monitoring zu fordern.
Entscheidungspunkt 3 –Ausrüstung und Monitoring: Der Melder empfiehlt, die bestehende Notwendigkeit einer kontinuierlichen Überwachung bei kritisch kranken Patienten und die dazu erforderliche Einsatztaktik adäquat zu schulen. Die kontinuierliche Überwachung war in diesem Fall allerdings zu einem wesentlichen Teil gewährleistet, weil mit der EKG- und Pulsoxymetrie-Überwachung die Überwachung von entscheidenden Modalitäten stattfand. Die Entfernung des Notfallrucksackes vom Patienten war hier ein offenkundiger Mangel, und eine einsatzstellentaktische Erleichterung („weniger tragen müssen“) rechtfertigt keine Patientengefährdung.
Zusammenfassung:
Anhand der drei Entscheidungspunkte zeigt sich die Vielschichtigkeit des Falles. Die Ergebnisse der Patienteneinschätzung und die Transportentscheidung sind im geschilderten Fall weniger gravierend, bekommen aber durch die nicht durchgängig vorhandene Sicherheitsleistung bei der Ausrüstung eine gefährliche Dimension. Entscheidend für die Verwirklichung der potentiellen Patientengefährdung war die räumliche Trennung von Patient und Notfallrucksack.
Das Verbleiben des Notfallrucksackes beim Patienten ist eine einfache und sicherheitsrelevante Regel für die Einsatzstellentaktik und sollte beachtet werden. Letztlich ist in der Notfallmedizin neben einer guten Ausbildung für die Patientenbeurteilung die Praxis und Erfahrung entscheidend. Die zentrale Sicherheitsreserve ist der Erhalt der stetigen Handlungsfähigkeit. Dies ist Bestandteil der allgemeinen Sicherheitskultur im Rettungsdienst und soll durch diesen Fall nochmals in Erinnerung gerufen werden.
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Eine Patienteneinschätzung muss nicht immer zutreffend sein – aber die Sicherheitsmaßnahmen müssen ausreichend sein.
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Im Regelfall bleibt deshalb die vollständige Ausrüstung immer beim Patienten – Handlungsfähigkeit erhalten.
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Jeder Notfallpatient hat das Anrecht auf eine seinem Zustand entsprechend vollständig vorhandene Ausrüstung.
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Patientensicherheit geht vor einsatztaktischer Vereinfachung
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Weiterführende Literatur:
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[1] ACC/AHA/ESC guidelines for the management of patients with supraventricular arrhythmias--executive summary: a report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Practice Guidelines and the European Society of Cardiology Committee for Practice Guidelines. Circulation. 2003Oct14;108(15):1871-909.
Autoren:
PD Dr. med. T. Birkholz, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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