Fall des Monats November 2014 |
11.12.2014 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Postoperative Nebennierenrindeninsuffizienz bei bekannter Cortisondauertherapie
Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Postoperative Nebennierenrindeninsuffizienz bei bekannter Cortisondauertherapie
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?Krankenhaus – PM-AmbulanzTag des berichteten Ereignisses:WochentagVersorgungsart:RoutinebetriebASA-Klassifizierung:ASA IIIWichtige Begleitumstände:Prämedikation des Patienten erfolgt spät am Vorabend der OPFallbeschreibung:
Ein Patient wird zur Operation prämediziert. Als Vorerkrankung besteht eine Nebenniereninsuffizienz. Unter anderem wird im Prämedikationsbogen erwähnt: "Asthma (Prednisolon 12 mg), Nebenniereninsuffizienz (...)". Bezüglich der Cortisontherapie werden 25 mg Hydrocortison präoperativ sowie die Fortführung der Dauermedikation mit Methylprednisolon angeordnet. Eine postoperative Überwachung auf der Intensivstation wird nicht durchgeführt. Am Abend nach der Operation wird der diensthabende Anästhesist von der Pflegekraft auf Normalstation informiert, dass der Ehepartner des Patienten eine Frage zur Cortisonsubstitution habe. Bei Eintreffen ist der Patient adynam (schwacher Händedruck, die Augen fallen während des Gesprächs immer wieder zu), aber ansprechbar und voll orientiert. Der Ehepartner berichtet, dass er bei der Prämedikation anwesend gewesen sei und angemerkt habe, dass eine Substitution mit Hydrocortison nicht wirksam sei, sondern Prednisolon verwendet werden solle (Der Patient hatte bereits mehrere Voroperationen). Zudem habe er dem prämedizierenden Arzt den Notfallausweis des Patienten inkl. Substitutionsschema vorgelegt und angeboten diesen zu kopieren. Dies sei abgelehnt worden. Der Ehepartner hatte zum Zeitpunkt des Gesprächs aufgrund seines Zustands dem Patienten bereits oral Methylprednisolon zusätzlich verabreicht. Gemeinsam wurde die laut Schema fehlende Menge Prednisolon verabreicht und der Zustand des Patienten stabilisierte sich.
Was war besonders gut?Sowohl Patient als auch Ehepartner sind gut über die Erkrankung informiert und haben den Notfallausweis dabei. Durch die Aufmerksamkeit des Ehepartners konnte der Patientenschaden verhindert werden.Was war besonders ungünstig?- Der begleitende Ehepartner wurde von mehreren an der Behandlung des Patienten beteiligten Personen (Pflege und Ärzte) als "anstrengend" beschrieben.- Die Prämedikation spät am Vorabend hat eventuell nicht mehr mit der nötigen Aufmerksamkeit stattgefunden. Die Cortisontherapie wurde fälschlicherweise auf das Asthma bezogen, zudem wurde das Medikament Metypred fälschlicherweise mit Prednisolon gleichgesetzt. - Die Erkrankung wurde in ihrer Schwere nicht wahrgenommen, eine postoperative Addison-Krise hätte mit schweren Folgen ablaufen können (sehr hohe Letalität).
Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?
- Chronisch kranke Patienten kennen sich mit ihrer Erkrankung oft gut aus, Notfallausweise sollten beachtet werden!
Häufigkeit des Ereignisses?seltenWer berichtet?Ärztin/ArztBerufserfahrung:über 5 JahreDie Analyse aus Sicht des AnästhesistenIn der vorliegenden Meldung werden die Begleitumstände einer beginnenden akuten Nebennierenrindeninsuffizienz („Addisonkrise“) geschildert, welche auf dem Boden einer chronischen Corticosteroideinnahme oberhalb der Cushing-Schwelle entsteht. Als Begleitfaktoren der Entstehung lassen sich
Die Tagesproduktion an Cortisol in der NNR beträgt 5-10 mg/m2 KOF/Tag, was einem oralen Äquivalent von 20-30 mg Hydrocortison entspricht. Unter Stressbedingungen wird die Cortisolproduktion auf bis zu 100 mg/m2 KOF/Tag gesteigert. Somit erhalten alle Patienten eine Substitutionstherapie, welche
Das Ausmaß der Substitution richtet sich nach dem vermuteten perioperativen Stress, der wiederum mit der Größe des chirurgischen Eingriffs korreliert.
Auch eine Therapiefestlegung im Sinne eines „shared decision making“ respektiert und nutzt die Erfahrungen, die Patienten oder deren Angehörige mit einer Erkrankung haben. Zumal, wenn glaubhaft nachgewiesen werden kann, dass ein spezielles Problem bereits mehrfach auf eine bestimmte Weise gelöst werden konnte. Da der diagnostische Prozess des Behandlers anfällig für nicht-sachbezogene Einflüsse ist (z.B. Sympathie/Antipathie etc.) ist es hilfreich, den eigenen Entscheidungsprozess kritisch zu reflektieren. Immer dann, wenn man sich von Patienten (oder deren Angehörigen) besonders abgestoßen oder angezogen fühlt, sollte man die eigenen Entscheidungen besonders aufmerksam auf "kognitive Verzerrungen" hin prüfen: Lehne ich Argumente ab, weil ich Personen ablehne; fühle ich mich durch das Verhalten angegriffen und will mit meiner Therapie demonstrieren, „dass immer noch ich der Arzt bin", beende ich den Entscheidungsprozess vorzeitig, weil ich mich nicht mehr damit auseinander setzen will …, bin ich in Eile, weil es bereits spät am Abend ist etc.“? Der vorliegende Fall illustriert somit sehr anschaulich den allgegenwärtigen Einfluss von „Human Factors“ auf unser Entscheiden und Handeln: Es war alles an Informationen da, aber aus „psychologischen“ Gründen hat man sich anders entschieden. Die Analyse aus Sicht des JuristenDer Sachverhalt zeigt zwei Probleme auf: Einmal den Stellenwert der Voruntersuchung und Vorbefundung sowie die Frage nach den Verantwortlichkeiten prä-, intra- und postoperativ.- Vorbefundung Der Sachverhalt macht deutlich, welche entscheidende Rolle eine sorgfältige Befunderhebung im Rahmen der Prämedikation spielt. Jeglichen Verdachtsmomenten, die für die weitere Therapie des Patienten von Bedeutung sein können, ist im Rahmen der Voruntersuchung, gegebenenfalls unter konsiliarischer Hinzuziehung anderer Fachvertreter, z.B. Internisten, nachzugehen: Unaufmerksamkeiten bei der Erhebung der Befunde im Rahmen der Prämedikation können fatale Konsequenzen haben. Den Anforderungen des Fachgebietes folgend stellt deshalb auch die Rechtsprechung an die Erhebung der Befunde hohe Anforderungen. Die Tatsache, dass die Prämedikation „spät am Vorabend“ stattgefunden hat, kann dies in keiner Weise entschuldigen. Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung eine Aufklärung im Rahmen der Prämedikation über das Anästhesieverfahren bei stationären Eingriffen spätestens am Vorabend erlaubt, ohne dies zeitlich näher einzugrenzen. Klar ist aber, dass, wie es auch § 630e Abs. 2 Satz 1 Ziff. 2 BGB („Patientenrechtegesetz“) festlegt, der Patient noch ausreichend Zeit zu ruhiger Überlegung haben muss, so dass er seine Entscheidung „wohl überlegt“, wie das Gesetzt verlangt, treffen kann. Dies setzt, von Notfällen abgesehen, einem Hinausschieben der Aufklärung in den späten Abend Grenzen. - Verantwortungsteilung Eine andere Frage ist es, wer für die unterlassene Cortisolsubstitution auf der Station verantwortlich ist. Im Grundsatz gilt, dass mit Übergabe des Patienten auf die Normalstation die Verantwortung des Anästhesisten („an der Aufwachraumtür“) endet. Die „Aufwachraumtür“ stellt jedoch keine starre Grenze dar, wie das Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 26.02.1991 [1] belegt. Hier litt ein Patient an einem Morbus Addison und musste entsprechende Präparate einnehmen. Bei einem länger dauernden, mit einem Blutverlust von ca. 800 ml verbundenen HNO-Eingriff wurde der Patient nach der Operation auf die Normalstation zurückgebracht; Cortisolgaben hatte er letztmals am Morgen des Operationstages, jedoch weder unmittelbar vor noch während noch nach der Operation erhalten. Nachts wurde der Patient vom Pfleger ohne Atmung und Pulsschlag aufgefunden, Reanimationsmaßnahmen blieben erfolglos, die Witwe klagte gegen alle beteiligten Ärzte (und den Krankenhausträger). Landgericht und Oberlandesgericht verurteilen die HNO-Operateure und den Anästhesisten, der BGH hebt dieses Urteil auf, er zweifelt an der Verantwortung der Operateure und verweist die Entscheidung erneut an das OLG zurück. Wie das OLG daraufhin entschieden hat, ist unbekannt. Der BGH jedenfalls unterscheidet in seinem Urteil die verschiedenen Phasen. Präoperativ sei der Anästhesist für die Vorbereitung der Narkose zuständig, dazu gehöre es auch, dem Patienten diejenigen Medikamente zu verabreichen, die ihm aufgrund seines Gesundheitszustandes schon zu diesem Zeitpunkt zur Aufrechterhaltung seiner vitalen Funktionen in der Narkose gegeben werden müssen. Sachverständig beraten, ist der BGH deshalb der Auffassung, dass die Anästhesisten in dieser Situation für die Substituierung der fehlenden NNR-Hormone verantwortlich waren. Intraoperativ sei der Anästhesist für die Narkose einschließlich der Überwachung und Aufrechterhaltung der vitalen Funktionen des Patienten und damit auch in dieser Phase für die Cortisolsubstitution verantwortlich. Der BGH sieht in der unterlassenen Cortisolmedikation übrigens nicht nur einen Fehler, sondern sogar einen „groben“ Fehler. Zur Frage, ob das Unterlassen der Cortisolgabe im postoperativen Bereich auch in die Mitverantwortung der Chirurgen fiel, führt der BGH aus: „Für die Weiterbehandlung eines Patienten nach Beendigung der Operation gelten zwischen Anästhesisten und Chirurgen … die bereits angesprochenen Grundsätze der Arbeitsteilung. Zwar wird die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Narkoseärzten und Operateuren regelmäßig so geregelt sein, dass der Patient dann, wenn er nach der Operation auf die normale Krankenstation zurückgelangt, vom Anästhesisten wieder in die Obhut der jeweiligen Stationsärzte entlassen wird … Im Streitfall ist aber bislang nicht festgestellt, dass gerade die Beklagten (gemeint sind die Operateure, Anm. d. Verf.) diejenigen Ärzte waren, denen auf der Station die weitere Betreuung (des Patienten) oblag. Zudem bedeutet die Rücknahme nicht ohne weiteres, dass nunmehr stets der dortige Stationsarzt sofort wieder für die Medikation zuständig wird. Vielmehr wird in der Regel vom Anästhesisten angeordnet, welche Medikamente der Patient im Anschluss an die Operation erhalten soll. Wie diese Aufgabenverteilung im Klinikum … geregelt war sowie ob und ab welcher Zeit auch bei etwa fortdauernder Zuständigkeit (des Anästhesisten) die Beklagten (Operateure) denen ja die Morbus Addison Krankheit – bekannt war, verpflichtet waren, das Krankenblatt auf eine Medikation von Cortisol zu überprüfen, stellt das Berufungsgericht nicht fest. Nur auf dem Boden solcher Feststellungen könne aber eine Mitverantwortung auch der Beklagten für den schweren Fehler der unterlassenen Cortisolgabe bejaht werden …“. Ob wirklich der Anästhesist „anordnet“, welche Medikamente auf der Station gegeben werden, mag zweifelhaft sein. Immerhin macht das Urteil aber deutlich, dass es keine „Verantwortungslücke“ in der Versorgung des Patienten geben darf und allen sich aufdrängenden Zweifeln und Problemen nachgegangen werden muss, dazu gehört die entsprechende Information der mit- und nachbehandelnden Fachvertreter. Weiterführende Literatur:
Autoren:
Dr. med. M. St.Pierre, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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