Fall des Monats Juni 2015 |
16.07.2015 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Beidseitige Phrenikusparese nach Skalenusblockade, weil anamnestisch kontralaterale Phrenikusparese nach Herz-OP übersehen wurde
Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Beidseitige Phrenikusparese nach Skalenusblockade, weil anamnestisch kontralaterale Phrenikusparese nach Herz-OP übersehen wurde
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?Krankenhaus - ITS/IMCTag des berichteten Ereignisses:WochentagVersorgungsart:RoutinebetriebASA-Klassifizierung:ASA IIIPatientenzustand:Zustand nach Herz-OPFallbeschreibung:
Der Patient kommt zur Schulterarthroskopie und erhält von der Anästhesie präoperativ einen interskalenären Katheter. Dieser funktioniert gut und sorgt für eine sehr gute Regionalanästhesie. Postoperativ wird der Patient zwar wach, bleibt respiratorisch aber insuffizient, und die Situation ähnelt klinisch einem Relaxanzüberhang. Allerdings wirkt der Patient gut ansprechbar. Es erfolgt eine Reintubation mit Larynxmaske und die Verlegung auf die Intensivstation. Nach einigen Stunden bessert sich die Situation und der Patient kann problemlos extubiert werden.
Der Patient wird hierauf genauer befragt. Es stellt sich heraus, dass er vor wenigen Jahren eine Thorakotomie für eine Herz-OP hatte und postoperativ eine Phrenikuslähmung auf der Gegenseite, auf der jetzt die Schulter-OP stattfand, festgestellt wurde: Somit hatte er postoperativ eine Phrenikuslähmung beidseits. Was war besonders gut?Die rasche Reaktion im OP auf die respiratorische Insuffizienz.Was war besonders ungünstig?Die schlecht Anamneseerhebung bzw. Sprachprobleme, da der Patient aufgrund einer anderen Muttersprache nur geringe Deutschkenntnisse besaß.Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?
Regelmäßige Befragung für solche Patienten nach Phrenikus- oder Recurrenslähmung.
Häufigkeit des Ereignisses?nur dieses MalWer berichtet?Ärztin/ArztBerufserfahrung:über 5 JahreDie Analyse aus Sicht des AnästhesistenDer Fall mutet auf den ersten Blick wie eine Geschichte aus „1000 und eine Anästhesie“ an: Eine akute respiratorische Insuffizienz aufgrund einer bilateralen Parese des N. phrenicus dürften die meisten Leser nur aus der Literatur kennen. Es ist in der Tat ein sehr seltenes Ereignis, und in der Regel bedarf es einer Kombination bzw. Verkettung von verschiedenen, zwischenfallbegünstigenden Faktoren, damit ein Problem wie im Fall dargestellt auftritt. Jeder einzelne Faktor für sich genommen wäre ohne Auswirkung geblieben:
In den letzten Jahren wurden von allen Fachgesellschaften verstärkte Bemühungen unternommen, die Anzahl von Screening-Voruntersuchungen zurückzufahren [1]. So gibt es z.B. keine Empfehlung mehr, generell oder ab einem bestimmten Alter eine Röntgen-Thoraxuntersuchung durchführen zu lassen. Ist diese Empfehlung angesichts des gemeldeten Falls immer noch richtig? Wir denken ja und möchten dies erläutern: Eine Zwerchfelllähmung ist häufiger als wir denken, auch wenn keine genauen Inzidenzen in der Literatur zu finden sind. Sie tritt z.B. auf
Die Anzahl der möglichen Ursachen ist erschreckend hoch, so dass es überrascht, dass nicht häufiger über Zwischenfälle wie im Fall berichtet wird. Die vom Melder geschilderte Kombination einer vorausgegangenen kardiochirurgischen Operation mit einer Jahre später durchgeführten Skalenusblockade dürfte angesichts der Prävalenz kardiochirurgischer Eingriffe und der Renaissance der ultraschallgesteuerten Regionalanästhesie möglicherweise eher noch zunehmen. Die Meldung führt allen regionalanästhesiologisch tätigen Anästhesistinnen und Anästhesisten die Wichtigkeit vor Augen, sich mit dem Thema unbekannte Zwerchfellparese zu beschäftigen. Unsere Empfehlungen sind Folgende:
Die Analyse aus Sicht des JuristenDer Arzt schuldet dem Patienten die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ (§ 276 BGB) oder, wie es jetzt § 630a Abs. 2 BGB bestimmt, eine Behandlung, die den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden „allgemein anerkannten fachlichen Standards“ genügt. Mit anderen Worten: Der Arzt muss diejenigen Maßnahmen ergreifen, die von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt aus berufsfachlicher Sicht seines Fachgebietes vorausgesetzt und erwartet werden [5]. Eher nachsichtig ist die Rechtsprechung bei einem diagnostischen Irrtum, strenger ist die Rechtsprechung indes, wenn fachlich gebotene, notwendige Befunde nicht erhoben werden. Es gibt jedoch keine „juristische“ Indikation, bestimmte Voruntersuchungen oder Vorbehandlungen allein aus rechtlichen Gründen durchzuführen. Maßgeblich sind die Leistungs- und Sorgfaltsstandards des jeweiligen Fachgebietes. In einer gemeinsamen Empfehlung haben die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie und die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin sich auf Grundsätze für die „Präoperative Evaluation erwachsener Patienten bei nicht kardiochirurgischen Eingriffen“[6] geeinigt. Eine besondere Stellung kommt dabei der Anamnese und der körperlichen Untersuchung zu: „Grundlage jeder präoperativen technischen Untersuchung sind … eine sorgfältige Anamnese einschließlich der Blutungsanamnese … eine gründliche körperliche Untersuchung sowie die Ermittlung der körperlichen Belastbarkeit des Patienten“. Wenn, wie in der Analyse aus Sicht des Anästhesisten beschrieben, eine Zwerchfelllähmung besonders häufig nach herzchirurgischen Eingriffen eintritt, wird daraus zu schließen sein, dass im Rahmen der Anamnese auf die Frage nach solchen Eingriffen nicht verzichtet werden kann. Hier entschuldigt es den Arzt dann auch nicht, dass es Verständigungsprobleme mit dem Patienten gegeben hat. Ebenso, wie etwa im Rahmen der Aufklärung, wird der Arzt sich bemühen müssen, sprachkundige Personen hinzuzuziehen, zumindest dann, wenn die Maßnahme nicht zeitlich dringlich ist. Mit einer gründlichen Voruntersuchung werden die Weichen für die spätere Behandlung und das Outcome des Patienten gestellt, Unachtsamkeiten und Fehler können im späteren Verlauf deletäre Konsequenzen für den Patienten und forensische für die beteiligten Ärzte haben.Eine andere Frage ist es, wer im Rahmen arbeitsteiliger Delegation nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Fachabteilung die Verantwortung für mögliche Befunderhebungsfehler trägt. Zwar gilt auch innerhalb der Fachabteilung prinzipiell der sog. Vertrauensgrundsatz, sodass der Anästhesist, der die Maßnahme durchführt, ohne den Patienten zuvor „prämediziert“ und aufgeklärt zu haben, darauf vertrauen darf, dass sein Kollege den Patienten ordnungsgemäß untersucht (und aufgeklärt) hat. Es sei denn, das Gegenteil ist bekannt oder muss sich dem Arzt aufdrängen. Allerdings setzt der Vertrauensgrundsatz voraus, dass innerhalb der Fachabteilung auch ein entsprechender Vertrauenstatbestand gesetzt wurde. Das heißt, es muss organisatorisch sichergestellt sein, dass die prämedizierenden Anästhesisten den Patienten dem Standard des Fachgebietes entsprechend voruntersuchen (und aufklären). Zu den Organisationspflichten bei der Delegation der Aufklärung innerhalb der Fachabteilung hat der BGH mit Urteil vom 07.11.2006 [7] Stellung genommen. Die Grundsätze, die der BGH dort aufgestellt hat, werden auf die Delegation bei der Voruntersuchung entsprechend anwendbar sein. Voraussetzung dafür, dass der die Anästhesie durchführende Anästhesist auf eine ordnungsgemäße Voruntersuchung und Vorbefundung durch seinen Kollegen vertrauen darf, wird zumindest sein, dass innerhalb der Fachabteilung organisatorische Maßnahmen getroffen wurden, um eine ordnungsgemäße Voruntersuchung und Vorbefundung und deren Dokumentation sicherzustellen. Im Konfliktfall werden die für die Organisation Verantwortlichen darlegen müssen, dass und welche Organisationsanweisungen sie erteilt und in welcher Form sie die Einhaltung überwacht haben. Ebenso wie bei der Delegation der Aufklärung wird man auch bei der Delegation der Voruntersuchung und Vorbefundung vom Anästhesisten, der die Maßnahme durchführt, verlangen müssen, dass er sich durch einen Blick in die Krankenakte über die ordnungsgemäße Voruntersuchung und Vorbefundung des Patienten vergewissern konnte. Nur dann, wenn für den das Anästhesieverfahren durchführenden Anästhesisten keine Zweifel an der ordnungsgemäßen Voruntersuchung und Befunderhebung erkennbar waren, wird sich der Fokus einer eventuellen zivil- und strafrechtlichen Auseinandersetzung, wenn der Patient durch mangelhafte Voruntersuchung und Vorbefundung zu Schaden kam, allein auf den für die Voruntersuchung zuständigen Anästhesisten und eventuell auf die für die Organisation der Patientenversorgung in der Fachabteilung Verantwortlichen richten. Weiterführende Literatur:
Autoren:
Prof. Dr. med. M. Hübler, Universitätsklinik Carl Gustav Carus Dresden
Dr. med. M. St.Pierre, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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