Fall des Monats September 2015 |
07.09.2015 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Keine Maskenbeatmung wegen Adenoiden möglich
Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Keine Maskenbeatmung wegen Adenoiden möglich
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?Praxis - EinleitungTag des berichteten Ereignisses:WochentagVersorgungsart:RoutinebetriebASA-Klassifizierung:ASA IPatientenzustand:Kleinkind, gesundWichtige Begleitumstände:HNO-Praxis, aktuell viele Umstrukturierungen, neuer Anästhesist, erfahrene aber wenig ausgebildete Anästhesieassistenz und OP-PersonalFallbeschreibung:
Das Kind hatte bis auf eine fehlende Nasenatmung keine Auffälligkeiten. Die Eltern verneinten eine Schlafapnoe oder einen Infekt. Nach mehreren Versuchen gelang die Anlage eines i.v.-Zugangs. Die Einleitung wurde nach Präoxygenierung i.v. mit Propofol und Remifentanil durchgeführt. Die Sättigung war 100%. Eine Maskenbeatmung war schwierig bzw. nicht möglich, da das Kind noch nicht tief genug schlief. Es wurde die halbe Intubationsdosis Propofol nachgegeben. Eine Beatmung war weiterhin nicht möglich. Lageoptimierung und Guedeltubus halfen nicht. Nach ca. 20 Sekunden begann die O2-Sättigung zu fallen. Nach ca. 1 min. fiel auch die Herzfrequenz. Das Kind wurde problemlos intubiert und der SpO2-Wert stieg rasch. Der HNO-Arzt entfernte enorm große Adenoide, die vermutlich der Grund für die schwierige Maskenbeatmung waren. Das Kind zeigte nach einer verlängerten Ausleitungsphase wieder Nasenatmung, war vollkommen unauffällig und wurde ambulant entlassen.
Was war besonders gut?- alle Geräte haben funktioniert- Materialien lagen bereit - keiner hat Panik bekommen - i.v.-Einleitung trotz schwierigen Venen - bei Gaseinleitung wäre Narkosevertiefung evtl. nicht möglich gewesen Was war besonders ungünstig?Es war die erste Narkose des Tages und das Team noch nicht warm gelaufen. Die Abläufe waren etwas verzögert, da auch einfache Dinge abgesprochen werden mussten. Der Versuch der Maskenbeatmung wurde zu lange durchgeführt. Eine rasche Intubation oder das Einbringen einer Larynxmaske hätte die Bradykardie vermutlich verhindert. Der Anästhesist hatte eigentlich Kinder unter 2 Jahren grundsätzlich abgelehnt, aufgrund besonderer Umstände aber ausnahmsweise eingewilligt.Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?Narkosen bei kleinen Kindern nur im eingespielten Setting, egal wie erfahren die Einzelpersonen sind. Alle Atemwegsmanagement-Hilfen einschließlich Larynxmaske müssen in den richtigen Größen griffbereit liegen, nicht nur irgendwo in der Schublade oder im Koffer. Kommunikation ist wichtig, kostet aber Zeit, die man bei einem hypoxischen Kind nicht hat. Fehlende Nasenatmung ist ein Hinweis auf große Adenoide, dies kann eine Maskenbeatmung erschweren.Häufigkeit des Ereignisses?mehrmals pro JahrWer berichtet?Ärztin/ArztBerufserfahrung:über 5 JahreDie Analyse aus Sicht des AnästhesistenHaben Sie ganz herzlichen Dank für die ausführliche Schilderung dieser pädiatrischen Atemwegskomplikation, welche sich im Rahmen der Narkoseeinleitung für eine ambulante Tonsillektomie ereignet. Der Leser fühlt sich anhand der Schilderung mit hineingenommen in den Entscheidungsprozess des behandelnden Anästhesie-Teams und spürt förmlich, wie bei der rasch fallenden Sättigung der Handlungsdruck für den Anästhesisten zunimmt. Aufgrund der Möglichkeit, emotional am Geschehen beteiligt zu sein ist ihre Meldung zunächst gut geeignet, Lernprozesse im Zusammenhang mit dem Atemwegsmanagement (sowohl beim Einzelnen in Sinne einer „mentalen Simulation“ als auch beispielsweise im Rahmen einer Fortbildung, in welcher ihr Bericht „peu à peu“ vorgelesen wird) anzustoßen. Als Orientierungshilfe für die eigene „mentale Simulation“ oder für eine Fortbildung eignet sich besonders die Handlungsempfehlung des Arbeitskreises Kinderanästhesie zur Prävention und Behandlung des unerwartet schwierigen Atemwegs [1]. Da der Melder davon berichtet, dass Abläufe im Team verzögert stattfanden und die jeweiligen mentalen Modelle nur ungenügend aufeinander abgestimmt waren (der Melder spricht hier von der Notwendigkeit, sich „warmzulaufen“), könnten die Handlungsempfehlungen des Arbeitskreises auch dazu verwendet werden, um sich im Team der betreffenden Praxis zusammenzusetzen und miteinander abzusprechen, wie man denn grundsätzlich vorgehen möchte, wo die jeweiligen Materialien gelagert sind usw. Dass der zuletzt genannte Aspekt sich nachteilig auf das Management des Notfalls ausgewirkt hat, wird aus der unter „Eigener Ratschlag“ gemachten Bemerkung offensichtlich. Ein vorbestehendes gemeinsames mentales Modell hilft, im Notfall sofort gemeinsam in die gleiche Richtung denken und handeln zu können.Erfreulicherweise kann das versorgende Team die vitale Komplikation erfolgreich bewältigen, so dass diese ohne jedwede Konsequenz für den Patienten bleibt. Sinkt das Stressniveau nach einem Zwischenfall langsam wieder auf seinen Ausgangswert zurück und kommt man innerlich etwas zur Ruhe, so stellt sich regelhaft für jeden Beteiligten die Frage, ob denn etwas anderes hätte getan werden können, um den Zwischenfall zu verhindern. So auch der Melder: In der Reflektion über den Zwischenfall kommt er zu dem Fazit, dass der Anästhesist einerseits bei seinem Grundsatz hätte bleiben sollen, die Anästhesieführung bei Kindern unter 2 Jahren abzulehnen, andererseits früher von der Maskenbeatmung auf die Einführung einer Larynxmaske hätte umsteigen sollen. Waren dies nun objektiv Fehler und ist das „hätte er doch …“ des Melders eine angemessene Schlussfolgerung? So subjektiv wichtig und objektiv notwendig diese Frage auch ist, so schwierig bis unmöglich ist eine angemessene Beantwortung, weil ein ganz grundlegender Sachverhalt die Bewertung erschwert: der rückschauende Betrachter weiß mehr als der Handelnde, und dieser banal klingende aber sich fundamental auswirkende Unterschied verzerrt jede Beurteilung: Die Bewertung eines Zwischenfalls soll zwar die Vergangenheit erklären, wird aber in der Gegenwart durchgeführt und ist dadurch zwangsläufig davon beeinflusst. Wissen Menschen aber um den Ausgang einer Situation, so sind sie nicht mehr in der Lage, die Handlungen der Beteiligten und ihre Gründe so zu beurteilen, wie sie es getan hätten, wenn sie von dem Ausgang nicht erfahren hatten (man nennt dies den „Rückschaufehler“ oder „hindsight-bias“). Das Wissen um die Konsequenzen färbt die Beurteilung von Motivation und Handeln (z.B. „man hätte den Patienten nicht so lange Maskenbeatmen dürfen“). Zudem überschätzt der Betrachter systematisch die Möglichkeiten, welche die Akteure hatten, um ein Ereignis vorauszusehen und zu verhindern; im geschilderten Fall die vermutlich mechanisch bedingte Atemwegsobstruktion durch die vergrößerten Adenoide. Weil man sich aufgrund des Wissensvorsprungs vorstellen kann, dass sich die Dinge anders hätten entwickeln können, geht man als Leser oder Hörer unbewusst immer davon aus, dass sie sich auch anders hätten entwickeln müssen – und verfehlt damit die Realität, die zum Zeitpunkt des Geschehens vorherrschte („counterfactual fallacy“) [2]. Man kann mit dem Wissen des „im Nachhinein“ leicht seinen Finger auf die Punkte legen, welche die handelnden Menschen übersehen haben oder nicht hätten übersehen dürfen; was sie nicht taten, obwohl sie es hätten tun sollen, was sie nicht bedachten, obwohl sie daran hätten denken müssen. Dadurch, dass man im Nachhinein Zugang zur „wahren“ Natur einer Situation hat (z. B. dass die Adenoide die Maskenbeatmung erschwerten), scheint die Bewertung der in der Situation Handelnden möglicherweise als „unklug, voreilig“ etc. In der Rückschau aus der Außenperspektive ergeben sich meist geradlinige, stimmige Geschichten. Die Entscheidungen und Handlungen der Beteiligten scheinen „zwangsläufig“ zu dem bekannten Ergebnis zu führen. Doch für die Beteiligten war die Situation, die von Unsicherheit (z.B. „warum lässt sich das Kind nicht mit der Maske beatmen? Liegt das an meiner Unerfahrenheit mit dieser Patientengruppe, liegt es am Patienten?“), Zeitdruck und Eigendynamik geprägt war, keine Geschichte, sondern bestand aus mehreren, nicht unbedingt miteinander verknüpften Elementen. Eine Bewertung aus der Rückschau konstruiert dann leicht eine fiktive Situation, in der man eigentlich nur die Wahl zwischen richtigem (z.B. Narkoseführung primär ablehnen; Larynxmaske einführen) und falschem Handeln (z.B. sich zur Narkoseführung bereit erklären, mit der Maskenbeatmung fortfahren) hatte und sich gegen das richtige Handeln entschied. Diese grundlegenden Überlegungen erklären, warum man häufig große Mühe hat, einen Zwischenfall adäquat aufzuarbeiten und die angemessenen Konsequenzen daraus zu ziehen. Wenn dies für die Beteiligten in der Rückschau schon schwierig genug sein kann, so ist es für einen außenstehenden Betrachter (wie beispielsweise jemand, der eine Analyse dazu verfassen soll) erst recht eine Herausforderung. Die Analyse aus Sicht des JuristenEs mag sein, dass ambulante Eingriffe überwiegend kleinere Eingriffe bei im Allgemeinen gesunden Patienten darstellen. Zu meinen, sie böten deshalb ein fachlich und forensisch geringeres Risiko als stationäre wäre indes ein verhängnisvoller Fehler. Ambulantes Operieren bzw. Anästhesieren stellt eher höhere Anforderungen an die Beteiligten, insbesondere bezüglich der Patientenauswahl (Sozialanamnese), der Durchführung unter ambulanten Bedingungen und an die Sicherstellung der postoperativen Versorgung. Das OLG Hamm [3] wies darauf hin: „Wer als Anästhesist bei ambulanten Operationen die Narkose ausführt, muss nicht nur um die möglichen Komplikationen wissen, sondern sich auch stets bewusst sein, dass sie ursächlich unter den Bedingungen des Ambulanten Operierens teilweise nicht zu klären…sind…“ Die Rechtsprechung und inzwischen auch § 630a Abs. 2 BGB verlangen, dass die Behandlung „den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards“ zu entsprechen hat.Im konkreten Fall ging es um die Versorgung eines Kleinkindes, das konkrete Alter wird nicht mitgeteilt, jedoch lässt sich aus dem Hinweis „der Anästhesist hatte eigentlich Kinder unter 2 Jahren grundsätzlich abgelehnt, aufgrund besonderer Umstände aber ausnahmsweise eingewilligt“ schließen, dass es sich um ein Kleinkind jünger als 2 Jahre handelte. In den Empfehlungen für die anästhesiologische Versorgung von Kindern in Europa der FEAPA [4] wird unter Ziffer 4.2 darauf hingewiesen, dass Neugeborene, Säuglinge und Kinder bis zu einem Alter von 3 Jahren besonders gefährdet sind, Anästhesiekomplikationen zu erleiden. In der „Handlungsempfehlung zur Prävention und Behandlung des unerwartet schwierigen Atemwegs in der Kinderanästhesie“ [1] heißt es: „Schwierigkeiten treten jedoch häufiger auf, wenn der Anästhesist nicht genügend mit den anatomischen, physiologischen und pharmakologischen Besonderheiten des kindlichen Atemwegsmanagements vertraut ist“. Der Anästhesist war sich offenbar bewusst, dass die Versorgung des Kleinkindes besondere Ansprüche stellt. Die gerade zitierte Handlungsempfehlung verlangt unter IV a, dass Anästhesien bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern (insbesondere unter 2 Jahren) von „einem in der Kinderanästhesie geschulten und erfahrenen Anästhesisten durchgeführt werden“. Unter III werden Anforderungen an den Kinderanästhesiearbeitsplatz beschrieben. Im Sachverhalt wird beschrieben, dass es aktuell viele Umstrukturierungen gab, dass ein neuer Anästhesist auftrat und „wenig ausgebildete Anästhesieassistenz und OP-Personal“ zur Verfügung stand. Die Empfehlungen des wissenschaftlichen Arbeitskreises Kinderanästhesie zur ambulanten Anästhesie bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern [4] verlangt aber „ein gut ausgebildetes und trainiertes Team aus Chirurgen und Anästhesisten“, denn dies „senkt die Morbidität und Mortalität bei Kleinkindern beträchtlich“: „Das gesamte Team, insbesondere aber Operateur und Anästhesist, muss über besondere Erfahrungen verfügen und jede Nachlässigkeit oder Unachtsamkeit unbedingt vermeiden.“ Auch wenn die letzte Anforderung an jeden Anästhesisten zu richten ist, machen die Ausführungen deutlich, dass die ambulante Versorgung von Kleinkindern schon eine besondere Herausforderung darstellt: und offenbar war sich der Anästhesist im konkreten Fall dieser Tatsache auch bewusst. Wie der Hinweis zu bewerten ist, dass er eigentlich die Versorgung von Kindern unter 2 Jahren grundsätzlich abgelehnt hatte, „aufgrund besonderer Umstände aber ausnahmsweise“ einwilligte, bleibt mangels detaillierter Hinweise im Sachverhalt offen. Jedenfalls muss derjenige, der im ambulanten Setting Kleinkinder versorgt, sich der damit verbundenen Sorgfaltsanforderungen bewusst sein – dies schließt „faule Kompromisse“ in jedem Fall aus. Mangels detaillierter Hinweise im Sachverhalt kann der geschilderte Vorgang juristisch nicht konkreter bewertet werden. Die gegebenen Hinweise sollen nur deutlich machen, dass ambulante Anästhesien generell, speziell aber gerade ambulante Anästhesien bei Kleinkindern, fachlich und damit rechtlich erhöhten Anforderungen unterliegen. Weiterführende Literatur:
Autoren:
Dr. med. M. St.Pierre, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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