Fall des Monats November 2015 |
15.12.2015 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Medikamente werden aufgrund hoher Personalbelastung im Nachtdienst falsch gerichtet
Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Medikamente werden aufgrund hoher Personalbelastung im Nachtdienst falsch gerichtet
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?Krankenhaus - NormalstationTag des berichteten Ereignisses:WochentagVersorgungsart:RoutinebetriebWichtige Begleitumstände:Medikamente werden durch eine einzelne Pflegekraft für 60 Patienten gerichtet. Es gibt niemanden, der dies noch einmal kontrolliert.Fallbeschreibung:
Bei der Frühvisite fällt auf, dass ein Medikament entgegen der ärztlichen Anordnung zweimal statt einmal täglich gerichtet wurde.
Was war besonders gut?Es wurde bemerkt, da die Tablette sich optisch sehr von den anderen verordneten Medikamenten unterscheidet.Was war besonders ungünstig?Es muss von einer hohen „Dunkelziffer“ ausgegangen werden.Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?Vernünftige Personalausstattung und damit strikte Befolgung des 4-Augen-Prinzips.Häufigkeit des Ereignisses?mehrmals pro JahrWer berichtet?Ärztin/ArztBerufserfahrung:über 5 JahreDie Analyse aus Sicht des AnästhesistenEine einzelne Pflegekraft hat die Aufgabe, während des Nachtdienstes die Tagesmedikation für den Folgetag für rund 60 Patienten bereitzustellen. Hierbei wird versehentlich ein Medikament für einen Patienten zweimal anstatt einmal für den entsprechenden Tag einsortiert. Diese Fehlmedikation wurde glücklicherweise rechtzeitig erkannt und abgewendet.Die Personalsituation insbesondere im Bereich der Pflege ist in sehr vielen Krankenhäusern (vornehmlich im Nachtdienst) an der absoluten Schmerzgrenze angekommen. Viele Stationen stellen nachts nur noch eine Pflegekraft. Im vorliegenden Fall ist zu hoffen, dass für 60 Patienten zumindest noch ein weiterer Kollege vor Ort gewesen ist. Der Arbeitsablauf auf der betreffenden Station und die Erfahrung der Pflegekraft sind uns natürlich nicht bekannt. Aber vermutlich kann davon ausgegangen werden, dass je nach Fachrichtung, Alter und Zahl der Vorerkrankungen der Patienten, mit ca. 3-5 Minuten je Patient gerechnet werden sollte, um die Medikation gewissenhaft und sorgfältig richten zu können. Somit wären ca. 300 Minuten (also fünf Stunden!) an Zeit aufzubringen. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Zeitspanne ohne Unterbrechungen und Ablenkungen vergeht. Eine Kontrolle der Medikation (4-Augen-Prinzip) ist ebenso nicht möglich. Eine derartig wichtige und sensible Aufgabe, wie das Bereitstellen der Medikation des Folgetages, kann unter diesen Umständen nur sehr schwer korrekt durchgeführt werden. Hier sollte dringend ein anderes (Personal-)Konzept erarbeitet werden. Obgleich der gemeldete Fall im Speziellen nicht sehr spektakulär erscheint, so bietet er uns die Gelegenheit auf das übergeordnete Problem der Medikationsfehler näher einzugehen. Patienten werden während ihres Krankenhausaufenthaltes in hohem Maße durch Medikationsfehler gefährdet. So stellen unerwünschte Arzneimittelereignisse die häufigste Ursache für Verletzungen und Todesfälle in Gesundheitssystemen dar [1, 2, 3]. Auch handelt es sich bei Medikationsfehlern um keine Einzelfälle. Laut einer Studie treten im Bereich der Intensivmedizin bei Erwachsenen im Mittel 109 Medikationsfehler je 1.000 ICU-Patienten-Tage auf [4]. Weiterhin ist für Intensivpatienten davon auszugehen, dass jedem im Durchschnitt 1,7 Fehler pro Tag widerfahren und beinahe jeder Patient einen potentiell lebensbedrohlichen Fehler während seines Intensivstationsaufenthaltes erlebt. 78% der schweren medizinischen Fehler auf einer Intensivstation sind Medikationsfehler [5]. Auch für die Pädiatrische Intensivmedizin gibt es derart ernüchternde Zahlen. Hier wurden 100-400 Verordnungsfehler je 1.000 Patienten beobachtet [6]. Der Medikationsprozess ist vielschichtig. Er gliedert sich in Verschreiben, Niederschreiben, Bereitstellen, Dosieren und Verabreichen. Die meisten Medikationsfehler geschehen während der Verabreichung (53%), gefolgt von Fehlern während der Verordnung (17%), Bereitstellung (14%) und Übertragung auf neue Verordnungsbögen (11%) [7]. Aus diesem Grund sind viele Krankenhäuser bzw. Krankenhausapotheken dazu übergegangen, das früher praktizierte Richten von Medikamenten für den nächsten Tag zu verlassen. Stattdessen werden die Medikamente fertig abgepackt und individualisiert von der Krankenhausapotheke an die Stationen geliefert. Voraussetzung für ein solches System ist das Führen einer elektronischen Patientenakte mit Schnittstelle zur Krankenhausapotheke. Neben der absolut vorrangingen Patientensicherheit hat eine relativ alte Berechnung aus den USA aus dem Jahr 1995 auch sehr interessante ökonomische Aspekte beleuchtet. So wird dort aufgeführt, dass Medikationsfehler jedes Krankenhaus im Schnitt 2,9 Millionen Dollar pro Jahr kosten. Eine Reduktion der Medikationsfehlerrate um 17% würde Einsparungen in Höhe von 480.000 Dollar je Krankenhaus erbringen [8]. Faktoren die zur Vermeidung von Medikationsfehlern beitragen sind unter anderem:
Die Analyse aus Sicht des JuristenZwei Ebenen sind zu unterscheiden: Die Verantwortung für die Anordnung der zu verabreichenden Medikamente liegt als Teil der dem Arzt vorbehaltenen therapeutischen Entscheidung beim Arzt. Die Auswahl der Medikamente nach Art, Dosis und Darreichungsform ist dem Arzt vorbehalten. Die Applikation ärztlich verordneter Medikamente kann auf hinreichend qualifiziertes Pflegepersonal übertragen werden, das insoweit dann die Durchführungsverantwortung trägt. Eine Delegation auf nichtärztliches Personal scheidet aber dann aus, wenn die Potenz der Medikamente und/oder die Art der Verabreichung respektive der Zustand des Patienten unmittelbare ärztliche Präsenz bei der Verabreichung fordern [9]. Delegiert der Arzt nicht delegationsfähige Leistungen oder wählt er den Delegaten nicht hinreichend sorgfältig aus, so gehen dadurch verursachte Schäden des Patienten als „Organisationsfehler“ mit entsprechenden zivil- und u.U. strafrechtlichen Konsequenzen zu seinen Lasten. Ordnungsgemäße Anordnung der Medikation und korrekte Auswahl der Person, an die die Medikation delegiert wird, vorausgesetzt, gehen Fehler bei der Applikation (z.B. Bereitstellen, Verabreichen) zu Lasten des damit beauftragten Pflegepersonals. Dieses hat für Mängel bei der Bereitstellung und/oder der Applikation haftungsrechtlich einzustehen (Durchführungsverantwortung). Die strafrechtliche Verantwortung für Medikationsfehler ist nicht auf den ärztlichen Bereich beschränkt. So wurde in jüngerer Zeit in Bielefeld ein PJ-Student, der ein Medikament zur oralen Anwendung versehentlich intravenös verabreicht hatte mit der Folge, dass der Patient aufgrund eines anaphylaktischen Schocks verstarb, zu einer Geldstrafe verurteilt.Leistungsverdichtung, Hektik und Stress im Arbeitsalltag ändern an dieser Verantwortung nichts. Der Bundesgerichthof hat klargestellt, dass die Sicherheit des Patienten allen anderen Erwägungen vorgeht, Personalengpässe entschuldigen nicht. Der Bundesgerichtshof hat dem Krankenhausträger zur Aufgabe gemacht, die notwendige Personalreserve zu stellen oder aber den Betrieb im Krankenhaus so einzuschränken, dass mit dem vorhandenen sowohl ärztlichen wie pflegerischen Personal eine ausreichende Versorgung gewährleistet werden kann [10]. Denn immerhin verspricht der Krankenhausträger nach §§ 39, 107 SGB V dem Patienten eine jederzeit ausreichende ärztliche und pflegerische Versorgung. Dann muss er aber auch die entsprechende Personalreserve zur Verfügung stellen, damit die Patientenversorgung dem versprochenen Standard entsprechend erfolgen kann. Wenn also auch Hektik und Stress infolge von Leistungsverdichtung nicht davor schützen, bei einer darauf beruhenden Medikamentenverwechslung, durch die ein Patient zu Schaden kommt, neben zivil- auch strafrechtlichen Konsequenzen ausgesetzt zu sein, so berücksichtigt die Rechtsprechung diese Umstände aber sehr wohl, nämlich bei der Beurteilung des Maßes der individuellen Schuld. Ein Beispiel: Eine Berufsanfängerin, die im Rahmen eines 24-stündigen Notdienstes nach abgeleisteter 63-Stundenwochen eine Blutkonserve infolge von Hektik und Übermüdung verwechselte, sah sich zwar einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und im Ergebnis auch einer Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung ausgesetzt, doch das Gericht sah von Strafe ab (§ 60 StGB) [11]. Im Urteil wird deutlich die Verantwortung des Krankenhausträgers für die Missstände hervorgehoben und dieses „Missmanagement“ wurde berücksichtigt bei der Frage, ob und wie der betreffende Mitarbeiter zu bestrafen ist. Vermehrt wird sich in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung und damit der individuellen Inanspruchnahme der patientenfernen Entscheider (z.B. Geschäftsführung) stellen [12]. Weiterführende Literatur:
Autoren:
Dr. med. P. Frank, Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Medizinische Hochschule Hannover
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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