Fall des Monats Februar 2016 |
09.03.2016 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Ventilationsprobleme bei massiver Obstruktion in Bauchlage
Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Ventilationsprobleme bei massiver Obstruktion in Bauchlage
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?Krankenhaus - OPTag des berichteten Ereignisses:WochentagVersorgungsart:RoutinebetriebASA-Klassifizierung:ASA IIIPatientenzustand:Pulmonale Verschleimung/ObstruktionWichtige Begleitumstände:Patient wird in Bauchlage operiert, daher wird eine Allgemeinanästhie durchgeführt.Fallbeschreibung:
Nach Umlagerung auf den Bauch erhöht sich der Beatmungswiderstand erheblich: für eine effektive Beatmung sind Drucke > 40 mbar erforderlich. Mit dem Narkosegerät gelingt weder die maschinelle noch die manuelle Beatmung, es kann nur mit 40-50 ml AZV beatmet werden. Mit dem Ambu-Beutel wird die Beatmung fortgesetzt, hiermit gelingt zunächst eine ausreichende Ventilation. Nach einigen Minuten kommt es zu einem Riss des Beutels wegen der hohen Beatmungsdrücke. Der zweite Ambu-Beutel ist nach wenigen Minuten auch gerissen. Nach etwa 15 min. wird die Therapie mit Beta-Mimetika, Euphyllin und Corticoiden wirksam, sodass wieder eine Respirator-Therapie möglich ist.
Als weitere Besonderheit ist eine verzögerte Gabe von SDH zu erwähnen, die zunächst durch ein Missverständnis nicht erfolgte. Das Narkosegerät wurde primär ausgetauscht, auch mit dem zweiten Gerät war keine suffiziente Beatmung möglich. Was war besonders gut?- Mit dem Beatmungsbeutel war der Patient kurzfristig zu oxigenieren, die broncholytische Therapie war nach 15 min. wirksam.- Es waren zwei Ersatz-Ambubeutel kurzfristig verfügbar. Was war besonders ungünstig?- Mit zwei Narkosegeräten war keine Beatmung möglich, zwei Ambu-Beutel rissen.Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?- Überprüfung der Narkosegeräte vor Einleitung und die Verfügbarkeit von mehreren Ambu-Beuteln kann erforderlich sein, um die Oxigenierung zu sichern.- Auf dem Narkose-Protokoll muss der Zwischenfall deutlich vermerkt werden, damit bei Wiederholungseingriffen mit Broncholytika vorbehandelt werden kann. Häufigkeit des Ereignisses?seltenWer berichtet?Ärztin/ArztBerufserfahrung:bis 5 JahreDie Analyse aus Sicht des AnästhesistenEin Patient wird nach Narkoseeinleitung im Saal auf den Bauch gedreht. Direkt danach sind massiv erhöhte Beatmungsdrücke notwendig, um minimale Tidalvolumina zu erreichen. Es wird von einer massiven Obstruktion sowie einer bronchialen "Verschleimung" ausgegangen. Nachdem mit zwei verschiedenen Narkosegeräten keine suffiziente Ventilation möglich ist, wird auf einen Handbeatmungsbeutel gewechselt, der jedoch nach kurzer Zeit reißt. Ebenso ergeht es einem weiteren Ambubeutel. Nach ca. 15 Minuten scheint sich die Obstruktion zu lösen und eine Ventilation ist wieder möglich.In dem Fall-des-Monats Oktober 2015 [1] wurde der Rückschaufehler besprochen. Auch hier fällt es schwer, sich unvoreingenommen in die Situation zurückzuversetzen und die Handlungen zu bewerten. Eine der wichtigsten Forderungen an einen Anästhesisten ist es, einen Patienten nicht zu gefährden. Die wichtigsten Fragen, die sich aufdrängen, sind „Stimmte die Arbeitshypothese?“ und „Warum wurden die Lagerungsmaßnahmen nicht abgebrochen?“ Das Drehen in Bauchlage ist eine heikle Angelegenheit und gerade für junge, unerfahrene Kollegen eine echte Herausforderung. Die Antizipation möglicher hämodynamischer Veränderungen (Reduktion des venösen Rückstroms durch Druck aufs Abdomen, v.a. bei adipösen Patienten oder zunächst schlechter Lagerung auf dem Beckenkissen), das Sicherstellen einer ausreichenden Narkosetiefe, sowie das Sicherstellen eines verletzungsfreien Drehvorgangs der meist noch voll relaxierten Patienten werden verlangt. Gleichzeitig gilt es Schläuche und Kabel zu entwirren und wieder anzuschließen.
In dem Fall war keine suffiziente Beatmung nach der Umlagerung mehr möglich. Es vergingen 15 min bis das Problem gelöst war. Aus der Sicht eines Unbeteiligten ist es nicht nachvollziehbar, dass die Lagerungsmaßnahmen nicht rückgängig gemacht wurden. Hier muss klar mit den operativen Kollegen kommuniziert werden, denn bei einer weiteren Eskalation sind wir kaum handlungsfähig.
Schwierigkeiten mit der Beatmung erfordern eine unmittelbare Aktion und entsprechend ein rasches Ausschließen/ Beseitigen von möglichen Ursachen:
Typisch ist, dass die Ursachensuche unter Zeitdruck erfolgen muss. Natürlich kann bei Patienten mit reagiblem Bronchialsystem durch Tubusmanipulationen ein massiver Bronchospasmus ausgelöst werden. Eine andere denkbare Ursache für einen Bronchospasmus ist eine allergische Reaktion, die zufällig zum Zeitpunkt des Umlagerns klinisch manifest wird. Aber selbst wenn ein Bronchospasmus die Ursache ist: Führen die therapeutischen Maßnahmen nicht schnell zum Erfolg, sollte – nein, muss die Lagerung aufgehoben werden.
Die Kritik, die hier an dem Vorgehen geäußert wurde, klingt für die an dem Ereignis Beteiligten vielleicht etwas harsch. Es geht hier aber nicht darum, etwas hinterher besser zu wissen, sondern Lösungen oder Hilfen anzubieten, auf die in Zukunft zurückgegriffen werden können. Es ist ein Leichtes, sich in die Situation hineinzuversetzen. Sie war dramatisch und die Frage ist, wie hätten wir reagiert? Keiner ist davor gefeit, bei komplexen Abläufen auf einfache Erklärungen zurück zu greifen. Leicht werden dabei wichtige Aspekte ausgeblendet und vielleicht nicht alle zur Verfügung stehenden Informationen mit der notwendigen Aufmerksamkeit analysiert. Eine Idee ist die Verwendung von strukturierten Entscheidungshilfen, die uns unter Zeitdruck unterstützen, Aktionismus und Tunneldenken zu vermeiden. In der Luftfahrt wird das so genannte FORDEC-Modell gelehrt. Wer es ein paar Mal verwendet hat, wird von der Wertigkeit des Modells schnell überzeugt werden. Wenden wir es einmal auf den Fall an: 1. Was sind die relevanten Fakten („facts“ F)? a) Patient wurde auf den Bauch gedreht. b) Die Beatmung ist kaum mehr möglich. c) Falls die Situation eskaliert, sind wir kaum handlungsfähig. 2. Was sind unsere Optionen („options“ O)? a) Wir machen die Lagerung rückgängig. b) Wir versuchen die Beatmung in Bauchlage zu optimieren, gehen auf Ursachensuche und leiten die entsprechende Therapie ein. c) Wir bereiten uns mit dem Wissen, dass die Beatmung kaum möglich ist, auf eine Reanimation in Bauchlage vor. 3. Was sind die Erfolgsaussichten und Risiken der Optionen („risks“ R)? a) Wir werden wieder handlungsfähig und können in Ruhe auf Ursachensuche gehen. Risiken entstehen durch die erneuten Umlagerungsmaßnahmen. Außerdem kommt es wahrscheinlich zu einem Zeitverlust. b) Die Erfolgsaussichten können nicht abgeschätzt werden. Es besteht das Risiko, dass die Ursachensuche und eine Therapie nur eingeschränkt möglich sind. c) Die Erfolgsaussichten einer Reanimation in Bauchlage sind nicht abzuschätzen. Das Risiko ist hoch. 4. Wofür entscheiden wir uns („decision“ D)? a) Option a), da Patientensicherheit an erster Stelle steht. Nach der Entscheidung (D) wird die Handlung ausgeführt („execute“ E) und anschließend evaluiert („check“ C), ob der gewünschte Effekt eingetreten ist. Ideal ist es, wenn das Abarbeiten des Modells laut erfolgt, so dass alle Anwesenden die Gedankengänge nachverfolgen und ihren Input geben können. Hier ist also eine Führungskraft gefragt. Zusammenfassend ist das Verbringen eines Patienten in Bauchlagerung eine anästhesiologische Herausforderung und erfordert unsere ganze Aufmerksamkeit. Die Handlung muss geplant und koordiniert ablaufen. Mögliche Probleme müssen antizipiert werden, um ohne Zeitverzug entsprechend reagieren zu können. Die Vorhaltung alternativer Beatmungsmöglichkeiten (Ersatz-Narkosegerät, Ambu-Beutel etc.) war in der meldenden Klinik vorbildlich. Dem Umstand, dass zwei Beatmungsbeutel unter der Anwendung rissen, sollte nachgegangen werden. Die Analyse aus Sicht des JuristenIn der vorangehenden Analyse des vorgestellten Falles aus Sicht des Anästhesisten wird darauf hingewiesen, vorliegend gehe es darum, Lösungen oder Hilfen anzubieten, auf die in Zukunft zurückgegriffen werden könne. Über einen solchen prospektiven „Rückgriff“ hinaus bedarf es hinsichtlich der Behandlungsqualität eines permanenten Abgleichs zwischen Ist-Gegebenheiten und Soll-Anforderungen. Insoweit gegebene Divergenzen zu erkennen, um sie unverzüglich abstellen zu können, bildet gerade die Funktion eines adäquaten CIRS. Dies betrifft sowohl das individuelle Behandlungsagieren als auch die strukturellen Gegebenheiten, auf deren Grundlage sich dieses Agieren vollzieht. Dabei können gerade aus juristischer Sicht basale Anforderungen zur Darstellung eines anzustrebenden „Soll-Zustands“ vermittelt werden [3].Auf der Grundlage der medizinischen Fallanalyse lassen sich zum fraglichen Geschehen drei Sachverhaltskomplexe abgrenzen:
Dabei betreffen die beiden letztgenannten Komplexe in besonderer Weise die Anforderung sorgfaltspflichtgemäßer Behandlung als Einhaltung anästhesiologischen Behandlungsstandards. 1. Für das Zusammenwirken von Anästhesie und operativem Fach gilt im Ausgangspunkt der Grundsatz strikter (horizontaler bzw. interdisziplinärer) Arbeitsteilung. Insofern greift das Prinzip der Einzel- und Eigenverantwortlichkeit für jeweils zur eigenständigen Erledigung übertragene bzw. übernommene Aufgaben und Tätigkeiten (einerseits operativ und andererseits anästhesiologisch) ein. Damit korrespondiert der sogenannten Vertrauensgrundsatz, wonach sich die an der Behandlung Beteiligten wechselseitig darauf verlassen dürfen, dass der jeweils andere seine Aufgabe beherrscht und sorgfaltspflichtgerecht bzw. lege artis wahrnimmt. Der Vertrauensgrundsatz bedarf insbesondere dann einer Ergänzung, wenn „das besondere Risiko der Heilmaßnahme gerade aus dem Zusammenwirken zweier verschiedener Fachrichtungen und einer Unverträglichkeit der von ihnen verwendeten Methoden oder Instrumente“ folgt [5]. Dann gilt in besonderer Weise eine Koordinierungspflicht zwischen den beteiligten Fachgebieten, wie auch vorliegender Fall zeigt. Denn einerseits bestand (hier zu unterstellen) chirurgisch das Erfordernis, die operative Behandlung des Patienten in Bauchlage durchzuführen, und andererseits resultierten daraus offenbar a priori das anästhesiologische Fach betreffende potentielle Erschwernisse und Risiken, beginnend mit Beatmungsgegebenheiten bis hin zum Reanimationserfordernis, was als etwaige Komplikation immer zu bedenken ist. Infolgedessen musste es bereits präoperativ darum gehen, das operative Agieren zum Schutz des Patienten vorausschauend interdisziplinär zu koordinieren (frühzeitige Unterrichtung, Überlegung zu Behandlungsalternativen, Notfallvorsorge etc.) [6]. 2. In Ansehung eines für den Patienten offenbar von vornherein (zumindest potentiell) erhöhten Behandlungsrisikos aufgrund der anzuwendenden Bauchlage bestand insbesondere seitens der Anästhesie Veranlassung, sich darauf bereits präoperativ einzustellen, was zum einen das technische Equipment und zum anderen vor allem auch die persönliche Qualifikation des tätig werdenden Anästhesisten anlangte. Insofern konnte das Erfordernis zur Patientenbehandlung „mit Facharztqualität“ implizieren, die Narkoseführung einem bezüglich potentiell erwartbarer Risiken möglichst „wirklich praktisch Erfahrenen“ zu übertragen. 3. Die Feststellung des komplikativen Verlaufs samt Ursachendetektion und adäquater Behebung hatte dann in der Tat unmittelbar unter Einhaltung „anästhesiologischen Standards“ zu erfolgen, wozu auf die Ausführungen in der medizinischen Fallanalyse hinzuweisen ist. Dazu gehört offenbar auch die Einhaltung von Algorithmen mit der Abarbeitung von Risikokontrollpunkten zur Ursachenfeststellung. Dabei zeigt die haftungs- und strafrechtliche Praxis - konkret: in entsprechenden Fällen eingeholte fachanästhesiologische Sachverständigengutachten -, dass es daran immer wieder mangelt; z.B. im Zusammenhang mit dem Erkennen einer Fehlintubation - eventuell auch durch mehrere Anästhesisten „in Kette“ - oder bezüglich der Entdeckung einer technischen Ursache von Beatmungsproblemen. Dabei geht es im Eigentlichen um die Einhaltung anästhesiologischer Standards, nämlich im Hinblick auf das Erkennen von Befundauffälligkeiten samt deren Behebung „mit Facharztqualität“. Die vorstehend ausgeführten auf den „Fall“ bezogenen Grundsätze gelten selbstverständlich generell, weshalb z.B. insbesondere die statthabende Praxis zu perioperativer interdisziplinärer Kooperation und Koordination - etwa auch im Zusammenwirken von Anästhesie und Geburtshilfe - laufender Überprüfung unterliegen sollte (Ist-/Soll-Abgleich in Ansehung der bezeichneten Berufsverbändevereinbarungen. etc.). Weiterführende Literatur:
Autoren:
Prof. Dr. med. M. Hübler, Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinik Carl Gustav Carus Dresden
Rechtsanwalt R.-W. Bock, Ulsenheimer - Friederich Rechtsanwälte, Berlin Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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