Fall des Monats Mai 2016 |
21.06.2016 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Zeuge Jehovas lehnt mündlich Blutgabe ab, unterschreibt aber ohne Widerspruch im Aufklärungsbogen
Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Zeuge Jehovas lehnt mündlich Blutgabe ab, unterschreibt aber ohne Widerspruch im Aufklärungsbogen
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?Krankenhaus - OPTag des berichteten Ereignisses:WochentagVersorgungsart:RoutinebetriebASA-Klassifizierung:ASA IIIPatientenzustand:Tumor-Anämie (Hb c. 10 g/dl)Fallbeschreibung:
Der Patient unterzog sich bei einer Sinus-Venosus-nahen cerebralen Metastase einer Kraniotomie. Die Narkoseeinleitung erfolgte problemlos nach Standard. Während der gemeinsamen Lagerung des Patienten im Operationssaal fragte der Chirurg den zuständigen Anästhesisten „beiläufig“ nach dem geplanten Konzept für einen ggf. zu erwartenden größeren Blutverlust. Er teilte dem Anästhesisten mit, dass bei dem vorliegenden sinusvenennahen Tumor durchaus ein relevantes Blutungsrisiko bestünde und dass der Patient als Zeuge Jehovas im Rahmen eines präoperativen Telefongespräches mit ihm persönlich jegliche Transfusion von Blutprodukten abgelehnt habe. Den Einsatz eines Cell-Savers hielt er angesichts der malignen Grunderkrankungen für ungeeignet. Die vom Chirurgen vorgebrachten Informationen (erhöhtes Blutungsrisiko, Glaubenszugehörigkeit, Ablehnung Transfusion) waren dem betreuenden Anästhesisten bis zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt gewesen. Es erfolgte erneut eine sorgfältige Durchsicht der Patientenakte. Hierbei zeigte sich, dass weder auf der chirurgischen noch auf der anästhesiologischen Einwilligung bzw. auf dem Prämedikationsprotokoll ein Vermerk zur Glaubenszugehörigkeit bzw. zur Ablehnung von Blutprodukten zu finden war. Ebenso wenig existierte ein Hinweis oder eine Kopie eines entsprechenden Dokumentes, welches von Zeugen Jehovas üblicherweise mitgeführt wird (Blutkarte, Patientenverfügung, etc.). Vielmehr wurde im Freitext der anästhesiologischen Einwilligungserklärung „Transfusion und Risiken“ aufgeführt und damit als Gesprächsinhalt des anästhesiologischen Aufklärungsgespräches ohne zusätzlichen Kommentar (z.B. Ablehnung durch Patient) dokumentiert. Von Seiten des Chirurgen gab es keine Zeugen oder eine schriftliche Dokumentation zum Inhalt des oben berichteten Telefonates.
Die Operation wurde dennoch wie geplant begonnen. Die Tumormetastase konnte ohne relevanten Blutverlust reseziert werden und der operative und anästhesiologische Verlauf gestalteten sich problemlos. Der Patient konnte kardiopulmonal stabil zur weiteren Überwachung auf die Intensivstation verlegt werden. Was war besonders ungünstig?- Mangelnde Dokumentation (des Telefonates) des Chirurgen- Patient hatte seine Glaubenszugehörigkeit nicht im Anästhesie-Fragebogen vermerkt - OP wurde trotz unplausibler Aufklärung durchgeführt: Es war „Transfusion“ vermerkt, trotz vermeintlicher Ablehnung des Patienten – hätte er nicht evtl. dann widersprochen im Gespräch? - Somit fehlendes Transfusionskonzept (Ablehnung Transfusion vs. KI Cell-Saver bei Tumormetastase) Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?Um einen solchen Informationsverlust zu vermeiden, muss immer zusätzlich zum Chirurgen (s. Formblatt der „Fremdbluttransfusion“) der Anästhesist bei gegebenem Blutungsrisiko explizit über Fremdbluttransfusion aufklären.Häufigkeit des Ereignisses?seltenWer berichtet?Ärztin/ArztBerufserfahrung:bis 5 JahreDie Analyse aus Sicht des Anästhesisten
Ende 2015 ist ein sehr informativer Übersichtsartikel im British Journal of Anaesthesia zu der Thematik erschienen, der allen Anästhesisten und Chirurgen wärmstens empfohlen werden kann [1]. Er geht auf die Glaubenshintergründe zur Einstellung zu Blutprodukten ein, mögliche Strategien der perioperativen Optimierung und stellt die Optionen dar, die den Patienten angeboten werden können und sollten. Es sind erstaunlich viele. Die Erfahrung zeigt, dass Angehörige der Glaubensgemeinschaft „Zeuge Jehova“ unter Umständen die ihnen vorgegebenen Regeln unterschiedlich auslegen. Aus diesem Grund sollte mit dem jeweiligen Patienten im Vorfeld besprochen und schriftlich dokumentiert werden, was für sie/ihn akzeptabel ist und was nicht. Die endgültige Festlegung des Erlaubten erfolgt am besten im „Vier-Augen-Gespräch“ mit dem Patienten. So wird z.B. einer Anwendung des in der Meldung erwähnten CellSavers unter Umständen zugestimmt. Weiter empfiehlt es sich, bei Operationen mit einem entsprechenden Blutungsrisiko, „Tod durch Verbluten“ mit aufzuklären und auf weitere mögliche erhebliche Schädigungen, z.B. Risiko der Erblindung durch Verzicht auf notwendige Transfusionen, hinzuweisen. In dem Fall war eine Transfusion glücklicherweise nicht erforderlich. Die hypothetische Frage, was der Anästhesist im Falle einer vital bedrohlichen Blutung hätte tun sollen, muss jeder für sich beantworten (zu den rechtlichen Aspekten siehe Analyse aus der Sicht des Juristen). Zum CellSaver noch eine Anmerkung: Laut Meldung hielt der Chirurg dessen Anwendung auf Grund der malignen Erkrankung für ungeeignet. Diese Aussage wird nicht durch die Literatur gestützt und widerspricht der Querschnitts-Leitlinie zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten der Bundesärztekammer [2]. Voraussetzung ist allerdings eine adäquate Bestrahlung des aufbereiteten Wundblutes vor der Retransfusion. Der Melder erwähnt, dass in den Krankenunterlagen kein Hinweis auf die Glaubenszugehörigkeit zu finden war. Hier ist der Patient aber auch in einer gewissen Bringschuld. Es kann nicht erwartet werden, dass explizit nach dem Glauben eines Patienten gefragt wird. Wahrscheinlich wäre dies sogar datenschutzrechtlich bedenklich.
„Die Aufklärung des Patienten über perioperative Bluttransfusionen obliegt dem Arzt, der sie anordnet und durchführt. Die (präoperative) Aufklärung des Patienten über die Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit einer intraoperativen Bluttransfusion gehört […] zu den Aufgaben des Chirurgen. Da sich die Aufgaben von Chirurg und Anästhesist eng überschneiden, wird der Berufsverband Deutscher Anästhesisten seinen Mitgliedern empfehlen, in die Patientenaufklärung über die Anästhesie auch Hinweise zur Bluttransfusion aufzunehmen, die es dem Patienten ermöglichen, weiterführende Fragen zu stellen oder auf eine nähere Aufklärung zu verzichten.“ Die Sachlage ist somit folgende: Der Anästhesist muss unter der Voraussetzung nicht über die Risiken einer Transfusion aufklären, wenn der chirurgische Kollege seine Arbeit getan hat. Da er aber die Verantwortung für intraoperative Transfusionen hat, hat sich eine Doppelaufklärung eingebürgert. Die Patienten werden meist sowohl von dem Chirurgen als auch von dem Anästhesisten aufgeklärt. Dieses Vorgehen ist vernünftig, um auf der sicheren Seite zu sein.
Die rechtliche Beurteilung, welche Aufklärung die bindende war, wird weiter unten durch den Juristen diskutiert werden. Grundsätzlich gilt, dass eine Aufklärung und die Einwilligung des Patienten nicht schriftlich erfolgen müssen. Mündliche Absprachen sind genauso gültig und rechtsverbindlich. Allerdings verlangt das Patientenrechtegesetz, dass der Arzt „Aufklärungen und Einwilligungen“ zu dokumentieren hat. Weiter ist eine schriftliche Fixierung der Aufklärung (und des Zeitpunkts der Aufklärung) aus zivilrechtlichen Gründen dringend zu empfehlen, da im Falle entsprechender Streitigkeiten der Arzt nachweisen muss, dass die Aufklärung erfolgte und korrekt durchgeführt wurde.
Eine allgemein gültige Lösung anzubieten ist nicht möglich. Sinnvoll wäre es aber, den Fall im Nachgang gemeinsam aufzuarbeiten. Ihn als Gelegenheit zu nutzen, das Prozedere bei Patienten, die der Glaubensgemeinschaft „Zeuge Jehova“ angehören, zu überdenken und eine Sensibilisierung für Fälle außerhalb der Norm zu erreichen. Die Analyse aus Sicht des JuristenZunächst ein Hinweis auf die allgemeinen Grundsätze: Die Indikation allein reicht zur Rechtfertigung eines ärztlichen Eingriffes nicht, hinzukommen muss die Einwilligung des informierten Patienten. Der Patient ist in seiner Entscheidung aber völlig frei, er ist insbesondere nicht verpflichtet einzuwilligen. Er kann seine Einwilligung in einer für die Ärzte bindenden Weise auch in einen vital indizierten, dringenden Eingriff entweder zur Gänze verweigern oder seine Einwilligung zu bestimmten Maßnahmen, Neben- oder Folgeeingriffen verweigern. Ist letzteres der Fall, hat der Patient also die Hilfeleistungsmöglichkeiten des Arztes limitiert, müssen die beteiligten Fachvertreter untereinander und mit dem Patienten erörtern, ob und inwieweit der Eingriff dennoch durchgeführt werden kann.Ebenso unstrittig ist, dass ein Patient seine Meinung jederzeit ändern kann, er kann also eine einmal erklärte Einwilligung später ganz oder teilweise widerrufen – und umgekehrt. Weder die Einwilligung noch ein Widerruf bedürfen der Schriftform. Die Entscheidung des Patienten setzt aber das notwendige Wissen um die Konsequenzen voraus. Dieses Entscheidungswissen hat der Arzt dem Patienten, sofern dieser nicht bereits das erforderliche Wissen hat, im Rahmen der (Selbstbestimmungs-) Aufklärung zu vermitteln – es sei denn, der Patient hat zuvor ausdrücklich auf nähere Aufklärung verzichtet. Aufklären muss nicht zwangsläufig der Arzt, der die Maßnahme dann später auch durchführt. Wird die Aufklärung innerhalb der Fachabteilung delegiert, dann muss der später die Maßnahme durchführende Arzt aber darauf vertrauen dürfen, dass sein Kollege den Patienten ordnungsgemäß aufgeklärt hat. Der Bundesgerichtshof hat sich dazu geäußert, wie die Aufklärung innerhalb der eigenen Fachabteilung zu organisieren ist, damit für den Arzt, der selbst nicht aufgeklärt hat, ein entsprechender Vertrauenstatbestand geschaffen wird [4] (stichprobenhaft überprüfte Dienstanweisung, entsprechende Dokumentation der Aufklärung etc.). In der Kooperation verschiedener Fachvertreter, die gemeinsam am Patienten tätig werden, gelten die Grundsätze der strikten Arbeitsteilung und der so genannte Vertrauensgrundsatz, ergänzt durch die Verpflichtung, die gegenseitigen Maßnahmen auf einander abzustimmen [5]. Die schon oben zitierte interdisziplinäre Vereinbarung [3] regelt die Frage, wer über eine intraoperativ u.U. notwendig werdende Transfusion aufzuklären hat: Nach der Vereinbarung ist dies in erster Linie Aufgabe des Chirurgen, da intraoperativ der Anästhesist die Indikation zur Transfusion stellt, wird empfohlen, dass auch er über die Transfusion aufklärt, soweit dies durch den Chirurgen noch nicht geschehen ist. Im konkreten Fall wusste der Anästhesist bis zum „Lagerungsgespräch“ mit dem Chirurgen weder, dass eine Transfusion erforderlich werden könnte, noch dass es sich bei dem Patienten um einen Zeugen Jehovas handelte, ein Veto bezüglich der Gabe von Blut war ihm ebenfalls nicht bekannt. In den Aufklärungs- und Anamnesebögen fand sich offenbar kein Hinweis auf eine limitierte Einwilligung. Die Dokumentation im anästhesiologischen Aufklärungsbogen darf wohl so interpretiert werden, dass über die Gabe von Fremdblut gesprochen wurde und der Patient keinerlei Einschränkungen bezüglich dieses Neben-/Folgeeingriffs geäußert hat. Nun kann der Patient seine Entscheidung jederzeit ändern. Wir wissen aber nicht, wann das Telefongespräch mit dem Chirurgen erfolgte, in dem der Patient Bluttransfusionen ausschloss – ob es also vor oder nach der anästhesiologischen Aufklärung stattfand. Wir bleiben also im Unklaren darüber, ob der Patient eine einmal erklärte Einwilligung später limitiert hat oder nicht, es bleibt also offen, ob der Patient mit der Gabe von Fremdblut einverstanden war oder nicht. Im konkreten Fall hat sich dieses „non liquet“ allerdings nicht ausgewirkt, weil eine Transfusion nicht erforderlich wurde. Wie der Konflikt zwischen dem Heilauftrag und dem Gewissen des Arztes und dem Selbstbestimmungsrecht eines Zeugen Jehovas, der Bluttransfusionen ablehnt, gelöst werden kann, ist an anderer Stelle beschrieben [6]. Nur wer in einem solchen Konfliktfall, bei dem zuvor darauf gehofft werden durfte, Bluttransfusionen könnten vermieden werden, die dann unverhofft doch notwendige Transfusion als gerechtfertigt ansieht, hat mit der rechtlichen Beurteilung des Sachverhaltes kein Problem: Sollte der Patient seine Einwilligung zur Blutgabe nach der Aufklärung durch den Anästhesisten widerrufen haben, wäre der Anästhesist auch dann gerechtfertigt, wenn er in dieser Situation Blut gegeben hätte. Problematisch wird es indes, wenn man dieser umstrittenen Auffassung nicht folgt: Hätte der Anästhesist von der Gabe von Blut abgesehen und wäre der Patient dadurch zu Schaden gekommen, müsste sich der Anästhesist in dem Fall, dass der Patient seine Einwilligung nicht widerrufen bzw. limitiert hat, rechtlich verantworten. Allerdings: Ein möglicher Widerruf der Einwilligung in die Transfusion wurde wohl nur gegenüber dem Chirurgen am Telefon erklärt, dieser Widerruf ist dem Anästhesisten gegenüber nicht erklärt worden, sondern ging diesem quasi „zufällig“ zu. Bis zur Lagerung war dem Anästhesisten jedenfalls nicht bewusst, dass der Patient seine Einwilligung in den Eingriff samt Neben- und Folgeeingriffen geändert respektive limitiert haben könnte. Soweit er keine Anhaltspunkte für eine Meinungsänderung erkennen konnte, musste er danach auch nicht forschen. Man wird vielmehr den Chirurgen für verpflichtet halten müssen, dass ihm Mitgeteilte rechtzeitig mit denjenigen zu kommunizieren, die es ebenfalls anging, also insbesondere den Anästhesisten zu informieren. Ob es dem Patienten nach dem „Lagerungsgespräch“ zwischen Chirurg und Anästhesist zumutbar gewesen wäre – ähnlich wie es bei intraoperativ notwendig werdenden Erweiterungen eines Eingriffs zu prüfen ist [7] – ihn wieder aufwachen zu lassen, um die Reichweite der Einwilligung zu klären, muss anhand der knappen Sachverhaltsschilderung offen bleiben. Eines wird aber sehr deutlich: Der Anästhesist wird bei der Lagerung vom Chirurgen einerseits mit dem Hinweis auf ein mögliches Transfusionserfordernis und zum anderen mit dem auf den Status des Patienten als Zeugen Jehovas und der Mitteilung, dass dieser der Gabe von Blut widersprochen hätte, überrascht. Adäquates „Patient Blood Management“ dürfte wohl anders aussehen. Auch eine generelle und grundlegend erforderliche Vereinbarung im Team, ob überhaupt – von Notfällen abgesehen – und wie die Behandlung von Jehovas Zeugen gestaltet werden soll [8], gab es wohl nicht. Zumindest wird dies im Sachverhalt nicht angedeutet. So gibt die Sachverhaltsschilderung genügend Anlass, Wege zur Optimierung der Organisation der Patientenversorgung und des Informationsflusses zu diskutieren. Weiterführende Literatur:
Autoren:
Prof. Dr. med. M. Hübler, Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinik Carl Gustav Carus Dresden
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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