Fall des Monats Juli 2016 |
18.08.2016 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Personalmangel auf der Intensivstation
Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Personalmangel auf der Intensivstation
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?ITS - IMCTag des berichteten Ereignisses:Wochenende / FeiertagVersorgungsart:RoutinebetriebASA-Klassifizierung:ASA IIIWichtige Begleitumstände:Seit Wochen hoher Krankenstand auf der ITS.Morgens meldet sich ein Mitarbeiter für den folgenden Nachtdienst krank (> 12h vor Dienstbeginn). Fallbeschreibung:
Intensivstation 7 Betten, 4 Beatmungen, 2 isolierte Patienten, 1 Bett frei, 2 Pflegekräfte im Nachtdienst, 1 Pflegekraft meldet sich krank (s.o.).
Für die erste Nacht rekrutiert die PDL eine Pflegekraft, die im Altersruhestand ist und noch nie auf dieser oder einer anderen ITS gearbeitet hat. Für die zweite Nacht wird eine Pflegekraft von Station rekrutiert, die ebenfalls noch nie auf dieser oder einer anderen ITS gearbeitet hat. Keiner der Kollegen ist an Beatmungs- oder den anderen Geräten der ITS ausgebildet bzw. auf diese eingewiesen. Was war besonders gut?- Notfalltelefon wurde an die Anästhesie "abgegeben".- Station wurde bei der Leitstelle abgemeldet. Was war besonders ungünstig?- Letztes Bett wurde in der ersten Nacht mit Notfallpatient von Station belegt- fünfte Beatmung Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?- Springerpool aufbauen- Patienten verlegen, wenn kein Personal gefunden wird - Zeitfenster nutzen Häufigkeit des Ereignisses?mehrmals pro JahrWer berichtet?Ärztin/ArztBerufserfahrung:über 5 JahreDie Analyse aus Sicht des AnästhesistenVielen Dank für diese Fallmeldung.Sie berichten zum Glück von keiner akuten Zwischenfallsituation mit einem oder mehreren Patienten auf der Intensivstation. Wenngleich neben der beschriebenen abstrakten Gefährdungssituation durch Unterbesetzung und Mangel an Qualifikation eine konkrete Gefahr hier eher wahrscheinlich ist [1]. Schlussendlich ist dieses Mal noch einmal alles gut gegangen. Folgende Punkte sind unklar und lassen daher nur eine grobe Analyse zu:
Sie berichten von hohem Krankenstand beim Personal „seit Wochen“:
Zur ärztlichen Besetzung:
Gemäß den „Empfehlungen zur Struktur und Ausstattung von Intensivstationen“ der DIVI heißt es auf Seite 14 unter Abschnitt C. „Pflege-Ausstattung“: „Für zwei Behandlungsplätze ist pro Schicht eine Pflegekraft erforderlich (Empfehlungsgrad 1A)“.Und weiter heißt es:„Bei speziellen Situationen (z.B. schwere Verbrennungen, extrakorporale Lungenersatzverfahren), einem hohen Anteil (>60%) an Patienten mit Organersatzverfahren (z.B. Beatmung, Nierenersatzverfahren) oder zusätzlichen Aufgaben (z.B. Stellung des Reanimationsteams für das Krankenhaus, Begleitung der Transporte der Intensivpatienten) soll eine erhöhte Präsenz von Pflegepersonal bis zu einer Pflegekraft pro Bettenplatz pro Schicht eingesetzt werden (Empfehlungsgrad 1C). Der Anteil an qualifizierten Intensiv-Fachpflegekräften soll mindestens 30% des Pflegeteams der Intensivtherapieeinheit betragen (Empfehlungsgrad 1C)“. In Anbetracht der Tatsache, dass BDA und DGAI in der Verbandsmitteilung BDAktuell/DGAInfo (Anästhesie und Intensivmedizin 2007;48:712-714) den Fachpflegestandard als erforderliche Qualifikation bei der delegierten Überwachung in der Aufwachraumphase betrachten, darf angenommen werden, dass dieser Fachpflegestandard auch in der Intensivmedizin eingehalten werden muss. Sie berichten, dass durch die Pflegedienstleitung die zwei Nachtdienststellen nominal besetzt wurden (Betreuungsverhältnis in diesem Fall 3,5 Patienten/Pflegekraft), woraus sich bei fünf beatmeten und zwei isolierten Patienten die Frage nach der Isolationsart und der empfehlungskonformen Personalplanung ergibt. Ihr Bericht lässt vermuten, dass qualitativ jedoch nur eine Pflegekraft für sieben (!) Intensivpatienten zuständig war, denn die Aushilfen waren nicht eingearbeitet, hatten keine Intensiverfahrung und auch keine - nach MPG vorgeschriebene - Einweisung in die Medizinprodukte. Sie waren zudem ganz offensichtlich für Notfälle nicht ausgebildet/trainiert, sonst wäre das Notfalltelefon wohl auch nicht abgegeben worden. Aufgrund der Tatsache, dass Sie von fünf beatmungspflichtigen Patienten berichten, kann nicht unterstellt werden, dass die Indikation für den Intensivaufenthalt zu großzügig gestellt wurde, die Patienten eigentlich gar nicht so krank waren und von daher mögliche Kandidaten zur Verlegung auf Normalstation waren. Pflegekräfte haben verglichen mit Ärzten aufgrund der unterschiedlichen Aufgabenverteilung den häufigeren Patientenkontakt im Tages- und Nachtverlauf, wodurch sie die ersten sind, die Probleme entdecken, Notfallmaßnahmen einleiten und ärztliche Hilfe hinzuholen können. Studien zeigen hier den Zusammenhang zwischen der Qualifikation des Pflegepersonals und Mortalität der Patienten [1]. Insbesondere die kritisch kranken Patienten erfordern eine intensive Überwachung durch qualifiziertes Personal, um frühzeitig negative Entwicklungen zu detektieren. Notfälle treten eben nicht nur auf Normalstation auf, sondern gerade auch auf Intensivstationen! Sie berichten als positiv, dass das Notfalltelefon an die Anästhesie abgegeben wurde. Aufgrund der vorliegenden Informationen nehmen wir an, dass Sie damit die Anästhesie-Pflege im OP meinen. Hieraus ergibt sich erneut die Frage nach der Versorgungsstufe des Krankenhauses, bzw. der vorhandenen Abteilungen. Haben Sie eine Geburtshilfe am Haus? Wäre durch Übergabe des Notfalltelefons an die Anästhesie-Pflege die Notfallversorgung von Schwangeren (z.B. Not-Sectio) noch gewährleistet gewesen, wenn sich die Anästhesie-Pflege bei einem Notfall auf der Normalstation befunden hätte? Für die zusätzliche Stellung des innerklinischen Rea-Teams empfiehlt die DIVI zudem mehr Pflegekräfte pro Schicht (s.o.) auf der Intensivstation. Zu hinterfragen ist auch ausdrücklich die Team-Kommunikation mit den Ärzten der Station. Waren die zuständigen leitenden Ärzte über die pflegerischen Versorgungsschwierigkeiten vollständig informiert, sowie die geplante Absenkung des Qualitätsstandards? Wurde von der ärztlichen/kaufmännischen Leitung diese Form der Besetzung - wenn auch stillschweigend - mitgetragen? Hat die Pflegedienstleitung selbständig oder auf Anweisung diese Lösung durchgesetzt? Selbst bei wohlwollender Beantwortung aller hier gestellten Fragen bleiben eklatante Verstöße gegen Empfehlungen, Leitlinien und Gesetze bestehen. Unter medizinischen, ethischen und kollegialen Gesichtspunkten, sowie insbesondere Gesichtspunkten der Patientensicherheit, ist das in dem Fall beschriebene Vorgehen strikt abzulehnen! Aus welchem Grund eine rechtzeitige Belegungsreduktion bzw. frühzeitige Verlegung der Patienten nicht erfolgte, ist für uns nicht zu erkennen. Der Mangel an ärztlichem und pflegerischem Personal im Gesundheitswesen ist ein zunehmendes Problem, nicht nur in Deutschland. Man kann zwar pauschal festhalten, dass große Krankenhäuser in Städten zumeist eine bessere Bewerbersituation haben, als ländliche Häuser. Schaut man jedoch in die einzelnen Abteilungen und Kliniken großer Krankenhäuser, findet man auch hier gewaltige Unterschiede bezüglich der Bewerbersituation und ebenfalls Probleme bei der Stellenbesetzung. Dieses Problem ist vielschichtig (demographische Entwicklung, Einstellung zur Arbeit, Honorierung von ärztlichen und pflegerischen Tätigkeiten, Arbeitsverdichtung, Arbeitsklima etc.) und kann an dieser Stelle nicht gelöst werden. Zugleich steigt der politisch gewollte ökonomische Druck weiter an. Krankenhäuser befürchten Erlöseinbußen und negative Publicity für den Fall, dass Stationen aus Personalknappheit geschlossen, Patienten verlegt und Eingriffe verschoben werden müssen. Der BGH hat jedoch entschieden, dass die Patientensicherheit Vorrang hat. Der Rechtsprechung kommt daher in Zeiten eines Qualitätsunterbietungswettbewerbs zur Bilanzoptimierung eine immer größer werdende Bedeutung bei der Aufrechterhaltung von Qualitätsmindeststandards in der Medizin zu [5]. Die Analyse aus Sicht des JuristenIn der Krankenversorgung kommt den Krankenhäusern besondere Bedeutung zu. Die Krankenversorgung hat bedarfsgerecht und kostengünstig, aber vor allen Dingen leistungsfähig zu sein. Ein Krankenhaus ist, so das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 25.03.1993, Az.: 3 C 69/90, NJW 1993, 3008) leistungsfähig, wenn es „den Anforderungen entspricht, die nach dem Stand der Wissenschaft an ein Krankenhaus dieser Art zu stellen sind …Der Begriff der Leistungsfähigkeit schließt mit ein, dass die nach dem Stand der Wissenschaft an ein Krankenhaus dieser Art zu stellenden Anforderungen auf Dauer gewährleistet sein müssen. Die sachliche und personelle Ausstattung eines Krankenhauses muss daher auf Dauer so angelegt sein, dass die Leistungsfähigkeit konstant erhalten bleibt…Sowohl für den ärztlichen Bereich als auch bezüglich des pflegerischen Bereiches (muss) die personelle Ausstattung so beschaffen sein, dass die Klinik den Anforderungen, die nach dem Stand der Wissenschaft an ein Krankenhaus dieser Art zu stellen sind, auf Dauer entspricht…“. Diese Ausführungen machen deutlich, dass sich auch die personelle Infrastruktur nach der versprochenen Leistung zu richten hat und nicht nach anderen Kriterien, etwa dem zu erzielenden Erlös. Unter dem Aspekt der Patientensicherheit kann es auch keinen anderen Ansatz geben. Dass es, von einigen spezialgesetzlichen Regelungen abgesehen, weder für den Bereich der ärztlichen noch für den Bereich der pflegerischen Personalausstattung unmittelbar gesetzliche Vorgaben gibt, heißt nicht, dass die Personalbedarfsberechnung im rechtsfreien Raum stattfindet. Der Hinweis des Bundesverwaltungsgerichtes auf den Stand der medizinischen Wissenschaft deutet auch auf das Patientenrechtegesetz. Dort wird in § 630a Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gefordert, dass die Patientenversorgung jederzeit den allgemein anerkannten fachlichen Standards zu genügen hat. Bei der Festlegung, was im jeweiligen Fachgebiet Standard ist, sind „maßgeblich… insoweit regelmäßig Leitlinien, die von den wissenschaftlichen Fachgesellschaften vorgegeben werden.“ – so die Bundesregierung in der Begründung zum Gesetzentwurf [6]. Insoweit haben die fachlichen Empfehlungen, etwa die der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten (BDA) zur ärztlichen Personalausstattung anästhesiologischer Kliniken [7] fachliche und rechtliche Bedeutung, nichts anderes gilt aber auch für die Empfehlungen der Verbände zum „Fachpflegestandard“ und die oben schon zitierten Empfehlungen der DIVI zur Struktur und Ausstattung von Intensiveinheiten. Besonders hohe Anforderungen an die fachliche Qualifikation und die Qualität der Versorgung sind insbesondere auf Intensivstationen mit gefährdetem Patientengut zu stellen.Es wird gemeldet, dass seit Wochen ein hoher Krankenstand auf der Intensivstation anzutreffen ist. Es handelt sich also nicht um einen vorübergehenden, unvorhergesehenen Personalengpass. Die Sicherstellung einer leistungsgerechten ärztlichen aber auch pflegerischen Versorgung fällt nicht allein in die Verantwortung leitender Ärzte und der Pflegedienstleitung, sondern in erster Linie und vor allem in den Verantwortungsbereich des Krankenhausträgers respektive der Krankenhausgeschäftsführung. Im Spannungsverhältnis zwischen ökonomischen Erwägungen und Sorgfaltspflichten räumt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Zivil- und Strafsachen eindeutig der Sicherheit des Patienten Vorrang ein: „Vorrang haben das Wohl des Patienten und seine Sicherheit… in keinem Fall werden sich Krankenhausträger und Ärzte darauf berufen dürfen, einen Mangel an ausreichend ausgebildeten Fachärzten zwingezum Einsatz auch relativ unerfahrener Assistenzärzte“ [8]. Was der BGH hier in Bezug auf die ärztliche Versorgung und den rund um die Uhr zu gewährleistenden Facharztstandard geurteilt hat, gilt sinngemäß auch für den „Fachpflegestandard“, insbesondere auf Intensiveinheiten. Zur Verantwortung des Krankenhausträgers und zur Personalausstattung in der Anästhesie hat der Bundesgerichtshof [9] ausgeführt, dass die Krankenhausgeschäftsführung „…unter solchen Umständen verpflichtet (war) organisatorisch dafür Sorge zu tragen, dass in jedem Fall eine ordnungsgemäße Narkose und deren Überwachung gewährleistet war. Er (der Krankenhausträger/die Geschäftsführung) hat zu diesem Zwecke eine ausreichende Anzahl von Stellen für die Anästhesie bereitzustellen und zu besetzen… Sie (die Betreiberin der Klinik) betreibt das Krankenhaus und stellt dessen Personal und Einrichtungen denjenigen Bürgern, die als Patienten eine klinische Behandlung benötigen, zur Verfügung. Das hat zur Folge, dass sie zur Garantin für den Schutz der Patienten vor vermeidbaren Schädigungen bei der Benutzung ihres Krankenhauses und bei der Behandlung und Pflege wird. Sie ist damit nicht nur vertraglich, sondern auch deliktisch verpflichtet, alles in ihren Kräften stehenden Zumutbare zu tun, um mögliche Gefahren für die Patienten abzuwehren…“. Nichts anderes gilt für die Versorgung auf Intensiveinheiten, insbesondere auch bezüglich der pflegerischen Versorgungsqualität. Weiß der Krankenhausträger um die Probleme in der Personalausstattung und kommt es zu einem Zwischenfall, so wird nicht nur die zivilrechtliche Haftung, sondern auch die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht an der Tür der Intensivstation Halt machen. Unbestritten ist, dass unter dem Aspekt der Organisationsfahrlässigkeit auch die Verantwortlichen des Krankenhausträgers bis hin zu der Krankenhausgeschäftsführung in den Fokus der juristischen Betrachtung geraten können. Dass das Personal vor dem Hintergrund des Medizinprodukterechts Gewähr für die sachgerechte Bedienung der Geräte zu bieten hat und deshalb in die Bedienung der Geräte eingewiesen sein muss, soll hier nur noch am Rande und abschließend erwähnt werden. Ob und wie in der konkreten Situation hätte improvisiert werden können, ist in der anästhesiologischen Analyse angerissen worden. Solche Fragen der Improvisation und „Um-Improvisation“ können allerdings nicht Gegenstand verantwortungsbewusster Personalplanung sein. Weiterführende Literatur:
Autoren:
Dr. med. W. Günther, Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin, Klinikum Nürnberg
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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