Fall des Monats September 2016 |
11.10.2016 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
STEMI als Ursache eines Kammerflimmerns wird übersehen, weil nach ROSC nur ein EKG mit Extremitäten abgeleitet wird
Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
STEMI als Ursache eines Kammerflimmerns wird übersehen, weil nach ROSC nur ein EKG mit Extremitäten abgeleitet wird
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?Notarztdienst – Notfall-Team-EinsatzTag des berichteten Ereignisses:WochentagVersorgungsart:NotfallASA-Klassifizierung:ASA IPatientenzustand:Kollaps unklarer Genese; Ehepartner verständigt zunächst Verwandten und danach die Feuerwehr (Notruf 112).Wichtige Begleitumstände:Der Patient hatte seit mehreren Wochen pectanginöse Beschwerden geäußert, den Arztbesuch jedoch nicht durchgeführt. Heute war er müde, abgeschlagen und insgesamt in einem reduzierten AZ. Es bestanden keine Risikofaktoren, keine Medikamenteneinnahme und keine familiäre Belastung.Fallbeschreibung:
Notarzt und RTW treffen in privater Wohnung ein; der Patient ist bewusstlos, nicht ansprechbar, und hat weite, nicht lichtreagible Pupillen beidseitig.
EKG: Kammerflimmern, Apnoe, Reanimation mit initialer Defibrillation 200J, dann Asystolie. Herzdruckmassage und Adrenalin, Intubation, ROSC nach ca. 17 min. Daraufhin stabile Kreislaufparameter. Der Patient atmet teils kräftig gegen die Beatmungsrhythmik an. EKG: Extremitätenableitungen unauffällig. Der Transport erfolgt mit dem RTW und dem Notarzt nach Rücksprache mit der Rettungsleitstelle aufgrund organisatorischer Gründe in ein kleines lokales Krankenhaus ohne Coronardiagnnostik und Kardiologie. Ankunft im Krankenhaus: hier erfolgt eine arterielle BGA mit guter Befundlage, ein Labor mit Troponin, das EKG zeigt einen STEMI V2-V5, im Verlauf werden dann ein Heparin-Bolus und Aspisol gegeben und ein Heparin-Perfusor gestartet. Im Echokardiogramm zeigt sich eine apikale Akinesie. Es erfolgt die Verlegung zur invasiven Koronardiagnostik und -therapie. Der Notarzt wird zu einem Sekundäreinsatz alarmiert; der Patient ist kreislaufstabil, rhythmisch, hat keine Katecholamine, und wird weiter beatmet. Es erfolgt die Übergabe im Herzkatheterlabor, in welchem ein relevanter koronarstenotischer Befund erhoben wird. Was war besonders gut?- Die Reanimation nach initialer Sicherung der Diagnose.- Der sehr gute Reanimationserfolg. - Die Transportbegleitung zum Krankenhaus nach telefonischer Anmeldung und dem Versuch ein geeignetes Haus zu finden. Was war besonders ungünstig?- Nach der ROSC wurde nur eine Extremitäten-Ableitung erhoben und somit wurde der STEMI komplett übersehen.- Es wurde kein Aspisol oder Heparin, Morphin, ß-blocker und ggf. Plavix/Brilique gegeben. Die Indikation zur umgehenden Koronarangiografie wurde nicht gestellt. Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?- Nach erfolgreicher Reanimation bei Kammerflimmern und allgemein bei Infarktverdacht sollten immer eine Extremitäten- und 12-Kanalableitung erfolgen.- Bei kreislaufstabilen Patienten aber auch unter Reanimationsbedingungen sollte eine geeignete Kardiologie angefahren werden. Gegebenenfalls nur zur Diagnostik und Therapie mittels Herzkatheter und anschließender Verlegung in eine optionale ITS/Überwachung. - Medikation im Sinne der Antikoagulation so früh und umfassend wie möglich, zumal der Patient kein ASS oder andere Antikoagulation einnahm. - Kühlung des Patienten, wenn technisch machbar. - "Zeit ist Masse" Häufigkeit des Ereignisses?jeden MonatWer berichtet?Ärztin/ArztBerufserfahrung:über 5 JahreDie Analyse aus Sicht des Anästhesisten und NotarztesWir sind dem Melder sehr dankbar für den lehrreichen und ausführlich dargestellten Fall. Der Fall lässt einerseits eine medizinische Interpretation zu (hätte ein 12-Kanal EKG das Vorgehen geändert, wie im Titel anklingt); andererseits werden organisatorische Probleme angesprochen, die z.B. die Wahl einer geeigneten Zielklinik für diesen Patienten betreffen.Zunächst: das Rettungsdienstteam hat ganz offensichtlich sehr gute Arbeit geleistet. Nach einer längeren Reanimation (17 Minuten) gelingt die Wiederherstellung eines Kreislaufs mit einem stabilen Kreislauf. Der Patient zeigte Spontanbewegungen (wehrte sich gegen die Beatmung), dies gibt Hoffnung auf ein gutes neurologisches Outcome. Danach ist die Schilderung des Falles nicht ganz eindeutig. Im Überwachungs-EKG (Extremitäten-EKG) werden keine eindeutigen Infarktzeichen gesehen. Somit akzeptiert das Team die Entscheidung der Leitstelle, diesen Patienten (zunächst) in ein nahegelegenes kleines Krankenhaus ohne Herzkatheter Intervention zu transportieren. Erahnt man die Intention des Berichtes, so wird klar, dass der Melder der Meinung ist, ein 12-Kanal EKG hätte diese Entscheidung ändern können, somit wäre nicht wertvolle Zeit bis zur koronaren Intervention verloren worden. Offen bleibt, warum ein solches EKG nicht geschrieben wurde. Auf dem Fahrzeug wurde doch sicherlich ein entsprechendes Gerät vorgehalten. Tatsache ist, dass im primär aufnehmenden Krankenhaus eine genauere Diagnostik durchgeführt wurde, die eindeutige Infarktzeichen hervorbrachte. In der Konsequenz erfolgte die sekundäre Verlegung des Patienten und die definitive Versorgung durch eine interventionelle Kardiologie. Ein 12-Kanal-EKG lässt bei einem Patienten nach ROSC nicht immer eine sichere Aussage über einen Myokardinfarkt zu ("...because chest pain and/or ST elevation are poor predictors of acute coronary occlusion in these patients"; ERC-Guidelines 2010; Deakin et al., Resuscitation 81,2010: 1305–1352). Zudem ist dies unter Transportbedingungen technisch zusätzlich erschwert und sollte nicht den Ablauf verzögern. Nach den ERC-Guidelines beginnt post-resuscitation-care mit dem ROSC, und damit wird stets ein 12-Kanal-EKG im Grundsatz notwendig. Ferner musste sich das Team eigentlich die Frage stellen, warum es zu der Reanimationssituation gekommen ist. Der mit Abstand häufigste Grund für das Auffinden eines Patienten im Kammerflimmern dürfte der Myokardinfarkt sein. Im Zweifel wäre jetzt die leitliniengerechte Therapie bei akutem Koronarsnydrom anzuwenden, also die Gabe von Antikoagulantien. Ferner gab es eigentlich keine Alternative zum primären Transportziel: Eine Klinik mit Herzkatheter Platz. Die Ausführungsverordnung des bayerischen Rettungsdienstgesetzes beispielsweise verpflichtet den Rettungsdienst, Notfallpatienten "in die nächste für die weitere Versorgung geeignete und aufnahmebereite Behandlungseinrichtung" zu befördern. Im Fall einer erfolgreichen Wiederbelebung ist ein Krankenhaus ohne invasive Kardiologie weniger geeignet, da die Mehrzahl der Herzkreislaufstillstände eine koronare Herzerkrankung hat und Patienten mit STEMI nach einer CPR durch EKG oder Klinik nicht sicher abgegrenzt werden können. Deshalb wird eine PCI bei allen Patienten mit Verdacht auf eine kardiale Ursache empfohlen ("...this intervention [PCI] should be considered in all post-cardiac arrest patients who are suspected of having coronary artery disease", ERC-Guidelines 2010; Deakin et al., Resuscitation 81,2010: 1305–1352). Insofern bleibt die Zuweisung in ein Haus ohne PCI die schlechtere Lösung und sollte möglichst vermieden werden. Für ländliche Regionen gilt eine häufige Einschränkung auf der organisatorisch-taktischen Ebene: Ein PCI-Haus ist nicht immer in erreichbarer Nähe oder möglicherweise definitiv nicht aufnahmebereit. Dann ist eine adäquate intensivmedizinische Versorgung in einem anderen Krankenhaus statt einer verlängerten präklinischen Zeit sinnvoll. Dies schien im geschilderten Fall allerdings nicht so gewesen zu sein, da eine umgehende Verlegung folgte. Der „Take Home Message“ des Melders haben wir nichts hinzuzufügen, verweisen lediglich auf die Tatsache, dass die Kühlung nach der aktuellen Lage der wissenschaftlichen Literatur nicht unbedingt erforderlich ist. Aber dies ist ein anderes Thema. Die Analyse aus Sicht des JuristenIm Folgenden soll nur auf die Auswahl eines geeigneten Zielkrankenhauses eingegangen werden. In der Meldung heißt es, dass der Transport nach Rücksprache mit der Rettungsleitstelle aufgrund organisatorischer Gründe in ein kleines lokales Krankenhaus ohne Koronardiagnostik und Kardiologie erfolgte. Die konkreten Hintergründe bleiben im Dunkeln. Deshalb kann auch nur allgemein auf die Probleme der Auswahl eines geeigneten Krankenhauses hingewiesen werden.Nach den Rettungsdienstgesetzen der Länder ist der Notarzt im Rahmen der Notfallrettung einerseits zur Versorgung von Notfallpatienten am Unfallort verpflichtet und hat andererseits für eine Beförderung in eine für die weitere Versorgung geeignete Einrichtung unter fachgerechter Betreuung zu sorgen, Sekundärtransporte eingeschlossen. Im Zusammenspiel mit der Rettungsleitstelle, die über die notwendigen Informationen zu den an der Notfallversorgung teilnehmenden Krankenhäusern verfügt, ist es Pflicht des Notarztes, die geeignete Behandlungseinrichtung für die Weiterbehandlung auszuwählen. Unter mehreren verfügbaren Krankenhäusern hat der Notarzt das für die im individuellen Fall erforderliche Behandlung am besten ausgestattete und dabei möglichst schnell erreichbare Krankenhaus auszuwählen. Da der Notarzt die medizinische Verantwortung für den Einsatz trägt, trägt er auch die Letztverantwortung für die Auswahl des „Zielkrankenhauses“. Idealerweise hat der Notarzt sich im Vorfeld schon generell informiert, welche Krankenhäuser an der Notfallversorgung teilnehmen, welche Spezialisierungen sie haben und in welcher Zeit sie grundsätzlich angefahren werden können. Dies vorausgesetzt, müsste der Notarzt in der konkreten Situation dann über die Rettungsleitstelle nur noch die freien Kapazitäten an den jeweils in Betracht kommenden Zielorten abfragen. Eine geeignete Behandlungseinrichtung muss nicht immer das nächstgelegene oder das größte Krankenhaus im Einzugsbereich sein. Kompromisse zwischen dem Transport in eine für die Behandlung am besten geeignete Einrichtung und einen möglichst schnellen Transport in eine nächstgelegene Einrichtung sind im Notarztdienst nicht selten. Das geeignete Zielkrankenhaus kann auch eine weiter entfernte, aber besser ausgestattete Einrichtung sein, vorausgesetzt, diese ist für die fachgerechte Versorgung des Patienten erforderlich und die mögliche Behandlungsverzögerung ist zeitlich vertretbar. Die Größe des Krankenhauses allein spielt keine maßgebliche Rolle, entscheidend ist vielmehr, ob und inwieweit dort eine bedarfsgerechte Behandlung gewährleistet ist und ob Kapazitäten frei sind. Das nächstgelegene Krankenhaus ist dann anzufahren, wenn der Patient sofort einer klinischen Versorgung bedarf und dort zumindest die erforderliche notfallmedizinische Erstversorgung gewährleistet ist. Bei der Auswahl des Zielkrankenhauses ist allerdings auch der Wille des Notfallpatienten – vorausgesetzt dieser ist ansprechbar und willensfähig – zu berücksichtigen. Ist jedoch aus Gründen der bedarfsgerechten Versorgung der Transport in ein anderes Krankenhaus erforderlich, als das, das der Patient wünscht, dann ist der Notfallpatient im Rahmen der verbleibenden Zeit darauf deutlich hinzuweisen. Entscheidet sich der Patient dennoch für das von ihm gewünschte Krankenhaus, dann ist sein Wille zu respektieren. Die Hinweise des Arztes und die Entscheidung des Patienten sollten sorgfältig dokumentiert werden. Bei einem nicht willensfähigen Patienten ist der mutmaßliche Wille des Patienten in die Auswahlentscheidung einzubeziehen. Der mutmaßliche Wille wird allerdings regelmäßig auf eine Verbringung in die aus fachlicher Sicht am besten geeignete Einrichtung gerichtet sein. Jedes Krankenhaus ist, unabhängig davon, ob es nach dem Krankenhausplan an der Notfallversorgung teilnimmt oder nicht, verpflichtet, Notfallpatienten aufzunehmen, vorausgesetzt, das Krankenhaus verfügt über freie Kapazitäten und ist zu einer fachgerechten Behandlung in der Lage. Eine voll ausgelastete Klinik oder eine solche, deren medizinische Möglichkeit zur Behandlung des Notfalls nicht ausreichen, ist immer noch verpflichtet, eine vorübergehende Erstversorgung und die Verlegung des Notfallpatienten in ein anderes, entweder freies oder besser ausgestattetes Haus zu sorgen. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass dem Notarzt bezüglich der Eignung der zur Behandlung vorgesehenen Einrichtung zwar eine sogenannte Einschätzungsprärogative zukommt, dass aber eine Einweisung in ein zur Durchführung der erforderlichen Behandlung definitiv ungeeignetes Krankenhaus fehlerhaft ist. Da dem Sachverhalt aber nicht zu entnehmen ist, welche „organisatorischen Gründe“ den Notarzt bewogen haben, das Zielkrankenhaus anzufahren und wir auch keinen Überblick darüber haben, welche Alternativen im konkreten Fall zur Verfügung standen, muss sich die rechtliche Analyse auf die Darstellung allgemeiner Grundsätze beschränken [1]. Weiterführende Literatur:
Autoren:
Prof. Dr. med. W. Heinrichs, AQAI GmbH, Mainz
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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