Fall des Monats April 2017 |
27.04.2017 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Vergessener Rachentupfer führt postoperativ zu Ateminsuffizienz bei einem Kleinkind
Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Vergessener Rachentupfer führt postoperativ zu Ateminsuffizienz bei einem Kleinkind
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?Praxis – AusleitungTag des berichteten Ereignisses:WochentagVersorgungsart:RoutinebetriebASA-Klassifizierung:ASA IPatientenzustand:Ca. 2 Jahre altes Kind zur Adenotomie und Parazentese mit Paukenröhrchen. Fieber- und infektfrei.Wichtige Begleitumstände:Langjährige Zusammenarbeit, alle Beteiligten kannten sich untereinander. Routinierte Abläufe.Fallbeschreibung:
Es war ein Routine-OP-Tag in einer HNO Praxis. Nach komplikationsloser Einleitung mit Sevofluran wurde i.v. vertieft und intubiert. Die OP verlief komplikationslose. Es gab keine Nachblutung, der Nasopharynx war bei Ausleitung trocken. Zunächst erfolgte die problemlose Ausleitung. Das Kind hatte eine gute Spontanatmung am Tubus bei einem PEEP von 5 mmHg und die Schutzreflexe (Husten und Schlucken) waren vorhanden. Es wurde extubiert und wie üblich auf dem OP-Tisch in stabile Seitenlage gebracht. Es wurde beobachtet, wie sich die Vitalparameter unter Raumluft vor Verlegung aus dem OP in den AWR verhielten. Die Lungenauskultation war unauffällig. Klinisch fiel allerdings eine leicht erhöhte Atemarbeit auf.
Nach 2 min unter Raumluft kam es zu einem relativ zügigen SpO2-Abfall von 99% auf 85%. Der Anästhesist entschied sich für eine Maskenunterstützung der Spontanatmung mit einem PEEP von 10 mmHg und 100% FiO2. Hierunter stieg der SpO2-Wert rasch auf 100%. Das exspiratorische CO2 betrug 48 mmHg. Unter der Maskenunterstützung verschwand die erhöhte Atemarbeit. Es folgte eine erneute Überwachung der Spontanatmung unter Raumluft mit dem gleichen klinischen Bild und einem erneuten Sättigungsabfall. Die Pupillen waren zu diesem Zeitpunkt beidseits mittelweit und lichtreagibel. Das Kind hustete und schluckte gelegentlich, zeigte sonst aber keine weiteren körperlichen Bewegungen. Insgesamt wurde das Kind 4x mit der Maske wie zuvor beschrieben unterstützt, ohne dass es zu einer nennenswerten Verbesserung kam. Während dieser Phase wurde das gesamte anästhesiologische und chirurgische Vorgehen re-evaluiert (Abläufe, Rachentamponade, Tupfer zur Blutstillung nach Adenotomie aus dem Müllsack geholt, Zeiten, Medikamenteneinsatz, etc.), ohne dass ein Grund für das "Ausleitungsproblem" gefunden wurde. Nach dem dritten Versuch (ca. 30 min Gesamtausleitung bis zu diesem Zeitpunkt) entschied sich der Anästhesist nach Rücksprache mit dem Operateur (der während der gesamten Ausleitung anwesend war), das Kind zu reintubieren und nach Rücksprache mit den Kollegen auf die Kinderintensivstation des nahegelegenen Krankenhauses zu verlegen. Das Kind wurde durch Medikamentengabe erneut eingeleitet, und nach ausreichender Narkosetiefe wurden mittels Laryngoskop die Stimmbänder eingestellt. Es fand sich ein blutiger Tupfer in einer seitlichen Position zur Stimmritze, der diese erhöhte Atemarbeit inklusive der beschriebenen Sättigungseinbrüche hervorgerufen hatte. Der Tupfer verlegte die Stimmritze aber nicht komplett, sondern engte lediglich den Pharynx um ca. 50% ein. Nach Entfernen des Tupfers wurden erneut alle verbrauchten und unbenutzten Tupfer dieser OP gezählt - und es war einer mehr als bei der präoperativen Zählkontrolle. Das Kind konnte nach ca. 5 min Maskenbeatmung innerhalb von weiteren 10 min problemlos ausgeleitet werden. Es erholte sich zügig im Aufwachraum unter kontinuierlicher SpO2-Überwachung in Anwesenheit einer Pflegekraft und der Eltern. Was war besonders gut?Ruhiges konstruktives Vorgehen im gesamten Team auch nachdem der Tagesplan deutlich in Verzug gekommen war. Engagierte Mitarbeit aller Beteiligten bei der Problemevaluation. Keine Schuldzuweisung. Klare Verteilung der einzelnen Arbeitsschritte. Ca. 30 min Teamsitzung am Ende eines langen OP-Tages mit dem Fazit folgende zusätzliche Sicherheitsschritte prä-, peri- und postoperativ in den Routinebetrieb einzubauen:Neben bereits benutztem Schild am OP-Tisch für die Rachentamponade zusätzliche Fadenmarkierung selbiger. Zusätzliches Feld auf dem Anästhesieprotokoll Rachentamponade eingelegt und entnommen. Was war besonders ungünstig?Erfahrenes und eingespieltes Team hat den Punkt Rachentamponade während der Evaluation zu schnell verworfen, da die Anzahl der Tupfer (Rachentamponade wird mittels eines Tupfers bei den Kindern gemacht) im Tischsack dieser OP stimmte. Es besteht der Verdacht, dass zwei Tupfer durch die Vakuumverpackung so aneinander geklebt haben, dass es bei der Zählkontrolle nicht aufgefallen ist.Eigener Ratschlag?- Rückblickend muss gesagt werden, dass es auch bei einem eingespielten und routinierten Team (HNO-Arzt, assistierende und springende Pflegekraft, Anästhesist und Anästhesiefachkraft) zu einem derartigen, allseits bekannten Problem kommen kann.- Wichtig ist es insbesondere in der Kinderanästhesie hier auch unter etwaigem Termindruck auf keinen Fall irgendetwas im schnell-schnell Modus zu machen und faule Kompromisse einzugehen. Die Rachentamponade wird seit diesem Tag mittels Faden markiert. Die Tupfer werden präoperativ durch assistierende und springende Pflegekraft gemeinsam direkt nach dem Auspacken gezählt und für alle im OP laut kommuniziert, was durch den Anästhesisten (Dokumentation auf dem Narkoseprotokoll) dann mündlich bestätigt wird. Häufigkeit des Ereignisses?nur dieses MalWer berichtet?Ärztin/ArztBerufserfahrung:über 5 JahreDie Analyse aus Sicht des AnästhesistenFalls man den Fall nur auf die rein medizinischen Fakten herunterbrechen will, dann sind die Lernbotschaften offensichtlich:
Das Besondere an diesem Fall ist, dass die Betroffenen hervorragende Arbeit geleistet haben! Während des Ereignisses stand stets die Patientensicherheit an erster Stelle. Von keiner Seite wurde Druck aufgebaut, obwohl der geplante OP-Tagesablauf empfindlich gestört wurde. Als dann schließlich die Ursache für die respiratorische Störung gefunden worden war, wurde sie nicht mit einem „Das hätte ich nicht für möglich gehalten!“ oder „In Zukunft müssen wir mehr aufpassen!“ mental abgeheftet, sondern es folgte eine gemeinsame Aufarbeitung am Ende des OP-Tages. Die berichtete Fehleraufarbeitung war vorbildlich im Sinne der Patientensicherheit. Zugleich war sie für die Beteiligten wahrscheinlich aber auch sehr befriedigend, denn die Aufarbeitung erfolgte unmittelbar und resultierte in einem konkreten Ergebnis. Erinnerungen und Emotionen verblassen über die Zeit und nicht selten resultiert das Aufschieben einer Aufarbeitung in einem Ausbleiben von Konsequenzen. Das ist bekanntermaßen einer der Stärken eines CIRS: Eine aktive Arbeitsgruppe verhindert dieses Vergessen. In dem Fall gab es keine spezielle Arbeitsgruppe, die sich mit dem Problem beschäftigte, sondern es waren die direkt Beteiligten, die sich des Problems annahmen. Das ist gelebte Sicherheitskultur! Zwischen den Zeilen erhalten wir die Informationen, die wesentlich waren, um dieses hohe Maß an Sicherheitskultur zu möglichen: Es arbeiteten nicht verschiedene Berufsgruppen bei der Behandlung eines Patienten zufällig zusammen, sondern es handelte sich um ein Team. Auch der Melder hat die Bedeutung dieses Aspektes erkannt und nennt als wichtige Begleitumstände, die langjährige Zusammenarbeit und dass sich alle Beteiligten untereinander kannten. Immer wieder sehen wir Meldungen, die die perioperative OP-Checkliste zum Thema haben. Meist wird sich auf einen bestimmten Aspekt fokussiert, der Dank Abarbeiten der Checkliste gerade noch auffiel oder – was leider auch häufig berichtet wird – der obwohl er auffiel, keine Konsequenzen hatte. Bei aller berechtigten Kritik gegenüber Checklisten wird gerne vergessen, was die Erstbeschreiber als deren wichtigste Funktion erachteten [1]: Das gegenseitige Vorstellen vor Abarbeiten der Items fördert die Teambildung. Durch die Aufhebung der Anonymität senkt es insbesondere bei Personen, die hierarchisch tiefer stehen, die Hemmschwelle, auf Fehler o.Ä. offen hinzuweisen. Sicherheitskulturen Wahrscheinlich jeder Anästhesist hat bereits die Erfahrung gemacht, dass die Teambildung immer dann besonders leicht gelingt bzw. automatisch erfolgt, wenn die Fachdisziplinen ein gemeinsames oder benachbartes Arbeitsfeld haben. Warum ist das so? Ein wichtiger Aspekt ist sicher, dass die gegenseitige Abhängigkeit offensichtlich ist und deshalb automatisch die Tätigkeiten des jeweils anderen aufmerksam verfolgt und wertgeschätzt werden. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Herangehensweisen zu Fragen der Patientensicherheit sich ähneln. René Amalberti unterscheidet 3 Arten von Sicherheitskulturen [2]: 1. Das Resilienz-Modell Der Begriff Resilienz leitet sich von dem lateinischen Wort resilire (abprallen, zurückspringen) ab. Physikalisch ist Resilienz die Eigenschaft von Materialien, elastisch und flexibel auf äußere Einwirkungen zu reagieren, ohne dabei die Form zu verlieren. In der Entwicklungspsychologie beschreibt sie die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen. Gemäß Amalberti zeichnen sich resiliente Unternehmen dadurch aus, dass ein gewisses Risiko akzeptiert wird. Experten nehmen sich des Problems an und finden Lösungen. Schaffen sie es, sind sie die Gewinner und werden auf Grund dieser Leistung hoch geschätzt. Es ist eine Kultur der Champions, zu der konsequenterweise auch eine Kultur der Verlierer gehört. Verlieren wird dabei allerdings nicht als Problem des Systems sondern eher als individuelles Versagen wahrgenommen. 2. Hochzuverlässigkeitsorganisationen Auch Hochzuverlässigkeitsorganisationen (= high reliability organizations (HRO)) verwenden die Idee der Resilienz. Allerdings ist hier nicht der Fokus auf das individuelle Lernen gerichtet sondern auf die Organisation selbst. Alle Mitglieder einer HRO sind aufgefordert, Auffälligkeiten zu registrieren und publik zu machen, so dass Maßnahmen abgeleitet werden können, um das System sicherer zu machen. Individuelles Versagen spielt eine untergeordnete Rolle, sondern es ist immer auch ein Versagen des Systems. 3. Ultra-sichere Systeme Ultra-sichere Systeme zielen auf Prävention. Sie versuchen, Störungen in den Abläufen zu antizipieren und Gegenmaßnahmen/ Prozeduren zu entwickeln und auszubilden, auf die im Bedarfsfall entsprechend zurückgegriffen werden kann. Ultra-sichere Systeme zeichnen sich entsprechend durch ein hohes Maß an Standardisierung aus. Der Einfluss des Individuums soll begrenzt werden. Jedes dieser 3 Systeme hat ihre Vor- und Nachteile. Der offensichtlichste Unterschied ist, dass die Erhöhung der Standardisierung zu Lasten der Flexibilität geht. Typischerweise arbeiten Unfallchirurgen eher gemäß dem Resilienz-Modell, während Anästhesisten sich oft an ultra-sicheren Systemen orientieren – zumindest, so lange es sich um gesunde Patienten handelt [2]. Arbeiten Vertreter unterschiedlicher Systeme zusammen, kann es zu Konflikten kommen und die Teambildung erschwert werden. Safety-I und Safety-II Ziel eines CIRS ist es, Schwachstellen aufzudecken und entsprechende Maßnahmen abzuleiten, die die Patientensicherheit (und Mitarbeitersicherheit) erhöhen. Dieses Vorgehen wird im englischen knapp als „Find-and-Fix“ bezeichnet. Ein anderer Begriff ist Safety-I [3]. Die „Find-and-Fix“-Methode ist immer dann wirksam, wenn eine offensichtliche Ursache-Wirkungsbeziehung gefunden werden kann. Leider sind die dafür erforderlichen linearen Abhängigkeiten bei der Patientenbehandlung nicht immer vorhanden [4]. Zusätzlich kann dabei der Eindruck des ewig Unzufriedenen, des Nörglers entstehen, der nur die negativen Aspekte wahrnimmt. Ein anderer Ansatz zur Erhöhung der Patientensicherheit setzt den Fokus nicht auf die gelegentlichen Störungen in der Patientenbehandlung sondern fordert, die Erfolge in den Mittelpunkt zu stellen (genannt Safety-II) [3]. Denn in der Regel leisten wir hervorragende Arbeit und die Patienten werden von uns sicher begleitet! Safety-I und Safety-II sind aber keine Konkurrenten, sondern beide haben ihre Berechtigung. Der dargestellte Fall zeigt, dass sie sogar parallel vorkommen können und dann wahrscheinlich den größten Effekt auf die Patientensicherheit haben: Tu Gutes und erzähle davon! Weiterführende Literatur:
Autoren:
Prof. Dr. med. M. Hübler, Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinik Carl Gustav Carus, Dresden
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
|