Fall des Monats Mai 2017 |
12.07.2017 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Alkoholisierter Patient befreit sich aus Fixierung und flieht aus IMC-Station
Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Alkoholisierter Patient befreit sich aus Fixierung und flieht aus IMC-Station
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?Krankenhaus – ITS/IMCTag des berichteten Ereignisses:Wochenende/FeiertagVersorgungsart:NotfallPatientenzustand:Alkoholisiert (2,0 Promille) + Schlag auf den Kopf mit BewusstlosigkeitWichtige Begleitumstände:Langjährige Zusammenarbeit, alle Beteiligten kannten sich untereinander. Routinierte Abläufe.Was ist passiert?
Der Patient wurde vom NA auf die IMC gebracht; der Arzt ordnete nur eine Bauchfixierung an. Die zuständige Pflegekraft fixierte den Patienten aufgrund drohender Aggressivität mit einem 3-Punkt System (Bauch, linker Arm, rechtes Bein). Der vorgeschriebene Leistengurt wurde nicht angebracht, da der Patient handgreiflich wurde und sowohl der Arzt, als auch die zweite Pflegekraft beim Anlegen nicht helfen wollten.
Im Verlauf befreite sich der Patient selbst aus dem Bauchgurt und später auch aus der Handfixierung (Info an den Arzt--> keine Erneuerung der Fixierung) und konnte sich so eine am Platz standardmäßig gelagerte Schere holen, um sich den Fussgurt durchzuschneiden und zu fliehen (verlässt das Krankenhaus in nicht geschäftsfähigem Zustand). Was war besonders ungünstig?- Keine Hilfe von den Kollegen (sowohl Arzt als auch Pflegedienst) trotz Ansprechen der Besorgnis und Unkalkulierbarkeit des Patienten- Gefährdung des Personals durch aggressive Patienten möglich - Keine Teamarbeit Wo sehen Sie die Gründe für dieses Ereignis und wie hätte es vermieden werden können?- Es ist keine SOP zum Umgang mit intoxikierten Patienten vorhanden- Abweichen von bekannter Regelung (3-Punkt normalerweise) - Individuelle Regelung trotz gewöhnlicher Weise anderem Vorgehen Häufigkeit des Ereignisses?nicht anwendbarWer berichtet?Pflege-, PraxispersonalDie Analyse aus Sicht des AnästhesistenDie Fixierung eines Patienten muss immer wohl überlegt sein und nur so kurz wie unbedingt erforderlich erfolgen. Vorbildlich an dem Fall ist, dass es initial eine Anordnung mit wahrscheinlich entsprechend dokumentierter medizinischer Begründung gab. Grundsätzlich gilt, dass die Gewaltenhoheit in Deutschland bei der Polizei liegt (siehe auch Fall des Monats August 2014 [1]). Die Fixierung eines Patienten muss in der Regel richterlich bestätigt werden. Das ist in der Akutsituation selbstverständlich nicht umsetzbar. Aus diesem Grund ist die genaue medizinische Dokumentation des Krankheitsbildes und der Indikation zur Fixierung erforderlich, ebenso wie eine zeitnahe Unterrichtung des zuständigen Gerichtes in der Regel per Fax um eine Fixierung anzuzeigen.Unabhängig davon sollten diesen Fall betreffend jedoch zwei Aspekte unbedingt abteilungsintern aufgearbeitet werden:
Unverständlich ist, dass die Pflegekraft offensichtlich mit dem Problem allein gelassen wurde. Warum sowohl der Arzt als auch die anscheinend anwesende zweite Pflegekraft nicht halfen, bleibt unklar. Das Beste wäre wahrscheinlich mit den Betroffenen ein gemeinsames Gespräch zu führen, das Problem zu thematisieren und einen Konsens zu finden. Je nach Struktur der Persönlichkeiten kann das Hinzuziehen eines neutralen Moderators sinnvoll sein. Bitte bedenken Sie jedoch ebenso, dass der Eigenschutz (besonders bei beschriebener unkalkulierbarer Situation) stets Vorrang haben muss. Um sowohl sich, dem Team als auch dem Patienten gerecht zu werden, ist das frühzeitige Hinzuziehen z.B. des Wachdienstes des Krankenhauses sinnvoll.
Der Patient war auf Grund seines Alkoholspiegels und des SHT nicht geschäftsfähig. Verlässt ein solcher Patient gegen den ärztlichen Rat das Krankenhaus, ist der Arzt in der Verantwortung. Bei drohender Fremd- oder Selbstgefährdung muss er dafür sorgen, dass der Patient weiter überwacht wird. Verursacht der Patient nach dem Verlassen einen Unfall oder kommt sonst wie persönlich zu schaden, kann der Arzt hierfür haftbar gemacht werden. Wahrscheinlich wird in einem solchen Fall auch der Versicherungsschutz des Krankenhauses (falls dieser besteht) nicht greifen. Wie oben erwähnt, hat die Gewaltenhoheit die Polizei. Es ist daher nicht erlaubt (und kann auch nicht verlangt werden), persönlich einzugreifen. Überlegt werden kann - in Abhängigkeit des medizinischen Sachverhalts - mit sedierenden Maßnahmen zu arbeiten. Ist dies keine Option, kann z.B. in der Akutsituation der hausinterne Wachdienst verständigt werden. Danach sollte die Polizei hinzugezogen werden. Diese muss auf jeden Fall verständigt werden, wenn der Patient das Krankenhaus nicht-geschäftsfähig verlassen hat. Die Analyse aus Sicht des JuristenRechtslageGrundsätzlich darf ein Patient - solange keine Unterbringungsanordnung existiert - nicht gegen seinen Willen auf der Station oder im Krankenhaus festgehalten werden, da dies den Straftatbestand der Freiheitsberaubung gemäß § 239 Strafgesetzbuch (StGB) erfüllt. Ausnahmen gelten nur dann, wenn eine Maßnahme sowohl medizinisch (zwingend) notwendig und zur Vermeidung einer (über die Störung der Heilbehandlung hinausgehenden) Eigen- bzw. Fremdgefährdung unbedingt geboten ist (OLG Bamberg, Urt. v. 5. Dezember 2011, Az. 4 U 72/11). Eine ärztliche Zwangsmaßnahme (bspw. Einsperren, Fixierung, Hand- oder Fußfesseln, Bettgitter, Bauchgurt am Stuhl, sedierende Medikamente zur Ruhigstellung etc.) kann gerechtfertigt sein, wenn einerseits beim Patienten eine akute Eigengefährdung (Notstandsituation gemäß § 34 StGB) bzw. andererseits eine akute Fremdgefährdung (Notwehrsituation gemäß § 32 StGB) vorliegt. Das heißt, wenn nach Einschätzung des ärztlichen Personals eine gegenwärtige erhebliche Gefahr besteht, dass der Patient sich selbst einen schwerwiegenden gesundheitlichen Schaden zufügt oder gewalttätig gegen andere Patienten oder Mitarbeiter des Krankenhauses wird. Bei längeren Fixierungen (mehr als 24 Stunden) oder wiederkehrende Fixierungen ist stets ein richterlicher Beschluss zu erwirken. Die Fixierung muss ein Arzt schriftlich anordnen, spätestens jedoch unmittelbar nach der Maßnahme durch das Pflegepersonal genehmigen. Die Fixierung ist zu dokumentieren und zwar mit dem Namen des anordnenden Arztes, dem Anordnungsgrund, die Art der Fixierung sowie die voraussichtliche Dauer der Fixierung von maximal 24 Stunden ohne erneute schriftliche Anordnung. Die Fixierungsanordnung ist sofort aufzuheben, sobald die Voraussetzungen für ihre Anordnung wegfallen. Ferner müssen fixierte Patienten unter ständiger akustischer und optischer Beobachtung stehen, angelegte Fixierungen sind alle zwei Stunden zu kontrollieren (OLG Bamberg, Urt. v. 5. Dezember 2011, Az. 4 U 72/11). Auch dies ist zu dokumentieren. Zu beachten gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Danach ist eine Fixierung als ärztliche Zwangsmaßnahme nur dann ein angemessenes Mittel, wenn die Bewegungsfreiheit des Patienten am wenigsten eingeschränkt wird, aber den Zweck der freiheitsentziehenden Maßnahme erfüllt. Die Fixierung darf nur als letztes verfügbares Mittel (ultima ratio) angewandt werden und nur solange, wie die Gefahr für Leib und Leben nicht durch weniger einschneidende (mildere) Mittel abgewendet werden kann. Bei Gefahr im Verzug und bei Erkennen einer erheblichen Fremd- bzw. Eigengefährdung ist unverzüglich die Polizei zu verständigen. Bis die Polizei eintrifft, sollte nicht die Gesundheit der Mitarbeiter und die der Mitpatienten gefährdet werden. Der Patient sollte als milderes Mittel zunächst beruhigt, ihm gut zugeredet, nötigenfalls deeskalierend auf ihn eingewirkt und gegebenenfalls ein Psychiater konsiliarisch miteinbezogen werden. Haben diese Maßnahmen von vornherein keine Aussicht auf Erfolg, dürfen sogleich schwerwiegendere Maßnahmen ergriffen werden. Ergebnis Im vorliegenden Fall hatte der Arzt nur eine Bauchfixierung angeordnet. Welche Anordnungsgründe seiner ärztlichen Entscheidung zugrunde lagen, kann der Sachverhaltsschilderung nicht entnommen werden. Die zuständige Pflegekraft fixierte den Patienten aufgrund drohender Aggressivität jedoch mit einem 3-Punkt System. Insofern hat sie sich über die ärztliche Anordnung hinweggesetzt. Sollte die drohende Aggressivität des Patienten erst nach der ursprünglichen ärztlichen Anordnung zutage getreten sein, handelte die Pflegekraft womöglich gerechtfertigt aufgrund einer Notwehrsituation gemäß § 32 StGB. Ob der anwesende Arzt die Maßnahme für medizinisch (zwingend) notwendig erachtete, kann dem Sachverhalt ebenfalls nicht entnommen werden. Allerdings obliegt den Pflegekräften eine weitreichende Sicherungspflicht und somit eine Garantenstellung, so dass ihnen eine entsprechende fachliche Kompetenz bei der Wahrnehmung ihrer Überwachungsaufgaben zugebilligt wird (OLG Bamberg, Urt. v. 5. Dezember 2011, Az. 4 U 72/11).Spätestens zu diesem Zeitpunkt wäre es angezeigt gewesen, die Polizei zu verständigen. Weshalb dann der Arzt im weiteren Verlauf keine erneute Fixierung anordnete, nachdem sich der Patient bereits aus dem Bauchgurt und aus der Handfixierung befreit hatte, kann nicht nachvollzogen werden. Ebenfalls nicht nachvollzogen werden kann, weshalb in greifbarer Nähe des Patienten eine Schere gelagert wurde, so dass dieser sich den Fußgurt durchschneiden konnte. All dies stellen mögliche Haftungsgründe dar. Weiterführende Literatur:
Autoren:
Dr. med. P. Frank, Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Medizinische Hochschule Hannover
Prof. Dr. med. M. Hübler, Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinik Carl Gustav Carus, Dresden Rechtsanwältin S. M. Schmidtchen, Ulsenheimer – Friederich Rechtsanwälte, Berlin Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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