Fall des Monats Juni 2017 |
12.07.2017 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Mangelnde Patientenüberwachung auf Normalstation trotz erhöhtem Blutungsrisiko
Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Mangelnde Patientenüberwachung auf Normalstation trotz erhöhtem Blutungsrisiko
Zuständiges Fachgebiet:
Chirurgie
Wo ist das Ereignis eingetreten?Krankenhaus – NormalstationTag des berichteten Ereignisses:WochentagVersorgungsart:RoutinebetriebASA-Klassifizierung:ASA IIIPatientenzustand:Marcumareinnahme bei Vorhofflimmern, periprothetische Fraktur, INR 2,1Wichtige Begleitumstände:Aufgeschobene OP-Indikation, OP zwei Tage später geplantFallbeschreibung:
Der Patient wird auf Normalstation verlegt, erhält dort aber lediglich Vitamin K und keine weitere Gerinnungssubstitution (z B. Faktoren) + niedermolekulares Heparin. Bis zur OP am übernächsten Tag erfolgt keine weitere Hb-Kontrolle.
Was war besonders ungünstig?Fehlendes Verständnis dafür, dass der Patient ohne adäquate Gerinnungssubstitution bzw. operative Versorgung weiter in den Knochen oder in die Muskulatur bluten kann.Eigener Ratschlag (Take-Home-Message):SchulungHäufigkeit des Ereignisses?mehrmals pro JahrWer berichtet?Ärztin / ArztBerufserfahrung:über 5 JahreDie Analyse aus Sicht des AnästhesistenBekanntermaßen haben marcumarisierte Patienten ein deutlich erhöhtes Blutungsrisiko. Es ist auf jeden Fall davon auszugehen, dass dies den Kollegen der chirurgischen Fachabteilung bekannt war, weshalb schließlich im Rahmen der OP-Vorbereitung auch Maßnahmen zur Gerinnungsoptimierung in Form von Vitamin-K-Gaben getroffen wurden.Ihre Befürchtung, dass der Patient weiter im Frakturbereich einbluten könnte, ist selbstverständlich gerechtfertigt. Deshalb obliegt es der chirurgischen Abteilung eine ausreichende Überwachung des Patienten sicherzustellen, um Zustandsverschlechterungen zeitnah detektieren zu können. Neben regelmäßigen Messungen der Kreislaufparameter sind auch entsprechende Blutentnahmen zur Kontrolle des Hämoglobingehaltes und der Gerinnungsparameter zu veranlassen. Bitte nutzen Sie die Gelegenheit diese Meldung als Anlass zu nehmen, in der betreffenden Abteilung auf die Einhaltung der notwendigen Monitoringmaßnahmen marcumarisierter Patienten hinzuweisen. Vor allem auch im Hinblick auf die notwendigen Bridgingstrategien (Marcumar – Heparin), um den Patienten nicht, z.B. durch Vorhofthromben, weiter zu gefährden. Die Analyse aus Sicht des HämotherapeutenProblematisch sind folgende Teilaspekte:1. Blutungsrisiko: Bei einem Patienten mit Vorhofflimmern, der auf Marcumar eingestellt ist, besteht im Verletzungsfall durch die Gerinnungshemmung einerseits durch das Trauma selbst ein Blutungsrisiko und andererseits durch die Operation.Die Frage zum Trauma ist erstens, ob es sich um eine traumatische oder eine iatrogene periprothetische Fraktur handelt. Denn solche Frakturen können auch ohne explizites Trauma nach und in Folge einer Prothesenimplantation auftreten. Der zur Gerinnungsstörung beitragende Pathomechanismus der traumainduzierten Koagulopathie wäre im ersten Falle definitiv stärker zu berücksichtigen. Im Weiteren stellt sich dann die Frage, wo die Frakturlinie verläuft. Blutungen aus einem Knochen kommen vorrangig aus dem Mark. Im Schaft, in dem kein Mark mehr ist, besteht eine sehr geringe Blutungsgefahr. Möglicherweise erfolgte also eine rein chirurgische Risikoabschätzung auf Grund solcher Fakten. Durch die vorgesehene Operation entsteht auf jeden Fall ein erhöhtes Risiko für einen größeren Blutverlust (abhängig von der vorhandenen Erythrozytenmasse des Patienten [1]). Damit ist eine Verdünnungskoagulopathie durch den notwendigen Volumenersatz einzuplanen. Dieser Eingriff ist demnach auch ohne Gerinnungshemmung durch Marcumar ein Eingriff mit höherem Blutverlust und einer komplexen Gerinnungshemmung. Die Verschiebung der Operation auf einen Zeitraum, in der man ein Abklingen der nicht allzu starken Blutgerinnungshemmung erwartet, ist angesichts der abzuwägenden niedrigen Thrombo-Emboliegefahr des Patienten anzuraten (ein CHA2DS2-Vasc-Score um 2 wird angenommen [2]). In diesem Fall verlässt sich der verantwortliche und anscheinend alleinig mit der Operationsplanung befasste Unfallchirurg auf die klinische Beurteilung der Blutungstendenz bei der durch die Verletzung entstehenden Blutung ins Gewebe. Vermutlich ist der Patient klinisch überwacht worden und Schmerzen, Spannung im Bein sowie Umfangszunahme gemessen worden. Es liegen allerdings leider auch keinerlei Informationen darüber vor, ob Umfangsmessungen des Oberschenkels und klinische Beurteilungen des Patienten angeordnet wurden. Dies kann allerdings auch auf einer entsprechend erfahrenen traumatologischen Station erfolgt sein, ohne dass der Meldende davon erfahren hat. Das berichtete Vorgehen ist nicht unüblich, da die prophylaktische Normalisierung bei der milden Gerinnungshemmung (INR 2,1, bei Vorhofflimmern im üblichen Ziel-Bereich) mit Gerinnungsfaktorkonzentrat (Prothrombinkomplex-Konzentrat) erstens teuer ist und zweitens nur bei akuter Blutung angezeigt ist. Allerdings sollte ein Ausschluss der Blutung erfolgen, am ehesten klinisch und laborchemisch anhand der Hämoglobinkonzentration. Zumindest eine INR-Kontrolle sollte vor einem solch blutungsrelevanten Eingriff erfolgen. Letzteres ist hier nicht erfolgt. Darüber hinaus wäre eine Einschätzung und Einstufung in den HAS-BLED-Score1 wünschenswert, eventuell auch mit einem internistischen bzw. angiologischen Konsil. Eine räumlich nahe und persönlich enge Zusammenarbeit in einem eigenen Aufnahmebereich der Patienten würde diese wichtige Kommunikation erleichtern (siehe 3.). Die geschilderte Situation ist allerdings nicht unüblich: Im normalen Klinikalltag wird nicht für jeden Fall ein großes interdisziplinäre Kolloquium einberufen. Der unbürokratische Anruf beim Hämostaseologen wäre ebenfalls ausreichend gewesen. 2. Embolierisiko:Es besteht ein Thrombose- und Embolierisiko bei diesem Fall, getriggert durch die thrombogene Wirkung des Traumas und verstärkt durch das Abklingen der Marcumarwirkung. Das Thromboserisiko eines Patienten ist allerdings bei einem bislang alleinigen und unkomplizierten Vorhofflimmern nicht allzu groß. Eine orale Antikoagulation beim Vorhofflimmern erfolgt nicht nur zur Vermeidung einer Embolie eines vorhandenen und dann im Echo sichtbaren Thrombus, sondern auch einer Neubildung eines solchen im amobilen Herzohr. Eine Einschätzung und Einstufung anhand des CHA2DS2-Vasc -Score und einer echokardiographischen Diagnostik zum Ausschluss eines bereits bestehenden Vorhofthrombus würde hier somit weiterhelfen1. Auch bezüglich dieses Aspekts wäre die vorgeschlagene Intensivierung der interdisziplinären Zusammenarbeit und die Aufnahmestruktur einer fachübergreifenden Ambulanz-/Aufnahmestation effektiv. 3. Die Kommunikation zwischen Unfallchirurg und Anästhesist, einem Hämostaseologen, sowie den Verantwortlichen der Operationsplanung ist hier vermutlich nicht optimal verlaufen und bietet Verbesserungspotenzial. Die Auswerte- Kommission nimmt an, dass der prämedizierende Anästhesist den Patienten auf Station sieht und korrekterweise den Fall gemeldet hat. Eine präoperative gemeinsame interdisziplinäre Fallkonferenz könnte die Vorbereitung dieser nicht unüblichen Fälle verbessern, ebenso ein hämostaseologisches Konsil, ein Klinikpfad oder eine Checkliste aller Maßnahmen zur OP-Vorbereitung dieser Patienten. Auch die Anlage eines zentralen Aufnahmedokuments im Krankenhausinformationssystem (KIS) und einer zentralen Anamneseerhebung wäre dienlich gewesen. 4. Die Überwachung auf Normalstation ist bei kleineren Häusern ohne Intermediate Care (IMC) nicht unüblich und deshalb gelebte Realität, aber natürlich nicht optimal. Meist sind aber die Pflegekräfte entsprechend geschult und die Ärzte darauf bedacht, die Überwachungsfrequenz bezüglich Komplikationen wie Nachblutungen, Kreislaufreaktionen und Schmerzen dem Eingriffs- und Patientenrisiko entsprechend zu erhöhen. Eine Überwachung auf einer Intermediate Care Station mit erweitertem Monitoring und erhöhtem Personalschlüssel wäre sinnvoll gewesen. Zu empfehlen sind folgende Maßnahmen zur Prozessqualität: 1. Interdisziplinäre Fortbildung Ärzte: Perioperatives Bridging, Abwägung von Thrombo-Embolierisiko versus Blutung mittels CHA2DS2-Vasc- und HAS-BLED Score. 2. SOP, Verfahrensanweisung Unfallchirurgie: Präoperative Vorbereitung von Patienten unter gerinnungshemmender Medikation. 3. SOP /Verfahrensanweisung Station: Checkliste zur OP-Vorbereitung. 4. SOP/Verfahrensanweisung Station: Existieren Überwachungsbögen für die Risikopatienten, die präoperativ überwacht werden müssen (Dokumentation von Kreislauf und Atmungsparameter, Aus/Einfuhr, Wundzustand und Extremitätenumfang etc.)? 5. SOP, Verfahrensanweisung Unfallchirurgie: Blutbereitstellung gemäß Blutungsrisiko des Eingriffs und unter Berücksichtigung von präoperativem Hämoglobingehalt/Erythrozytenmasse und Gerinnungsstörung. 6. SOP/Verfahrensanweisung OP-Personal: Einschleusungsroutine anhand der WHO-Sicherheitscheckliste und Abfragen von Blutungsrisiko und Transfusionsbereitschaft. 7. Meldung an die Transfusionskommission. Strukturqualität: 1. Besteht eine IMC für solche Patienten? Ist die Personalstärke auf Normalstation geeignet auch solche Überwachungspatienten sicher zu behandeln? 2. Einführung und Etablierung der interdisziplinären fachärztlichen Kommunikation zur OP-Vorbereitung, wenn nicht einer interdisziplinären Aufnahme/Ambulanzeinheit. 3. Einrichtung einer zentralen elektronischen Patientenakte mit einer zentralen Anamnese und Zugriffsmöglichkeit aller Mitbehandler. Konsile und interdisziplinäre Arbeitsprozesse sind damit deutlich einfacher zu organisieren und durchzuführen. 4. Einführung eines speziellen hämostaseologischen oder angiologischen Konsildienstes. 5. Kommunikationstraining und –Erleichterungen aller Art. Abhalten einer gemeinsamen OP-Konferenz am Vortag der Operation. 6. Die elektronische Anmeldung von chirurgischen Eingriffen im OP-Management-Programm kann bei Vernetzung mit dem Labor und der Blutbank mit Plausibilitätsprüfungen belegt werden. Ist der präoperative Hämoglobinwert aktuell und ausreichend für die Eingriffsdringlichkeit? Weiterführende Literatur:
Autoren:
Prof. Dr. med. T. Frietsch, 1. Vorsitzender der IAKH, Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie, Diakonissenkrankenhaus Mannheim
Dr. med. G. Wittenberg, Klinik für Anästhesiologie, BG-Unfallklinik Ludwigshafen Prof. Dr. med. R. Moosdorf, Herz- und Thoraxchirurgie, Universitätsklinikum Gießen-Marburg GmbH, Marburg Dr. med. P. Frank, Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Medizinische Hochschule Hannover Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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