Fall des Monats September 2017 |
03.11.2017 | |||||||
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Die Kombination eines thorakalen PDK mit der Gabe von Neostigmin bedingt möglicherweise mehrere kurzfristige Asystolien
Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Die Kombination eines thorakalen PDK mit der Gabe von Neostigmin bedingt möglicherweise mehrere kurzfristige Asystolien
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?Krankenhaus – ITS / IMCTag des berichteten Ereignisses:WochentagASA-Klassifizierung:ASA IIPatientenzustand:Patient mittleren Alters am 1. post-operativen Tag nach einem unkomplizierten Baucheingriff (ca. 100 ml Blutverlust). Sonst keine relevanten Vorerkrankungen bekannt.Wichtige Begleitumstände:Der Patient wurde mit einem thorakalen PDK versorgt. Unkomplizierte präoperative Anlage bei Th8/9. Bereits intraoperative Nutzung des Katheters (Testdosis Bupivacain 0,5% 2,6 ml bei wachem Patienten; dann vor Schnitt fraktioniert Ropivacain 0,75% 10 ml, Sufentanil 10 µg; Pumpe mit Ropivacain 0,2% + Sufentanil 0,75 µg/ml mit 6 ml/h gestartet). Postoperativ sehr gute analgetische Wirkung. VAS 0/0; keinerlei zusätzliche Boli angefordert (theoretisch über PCEA-Pumpe 4 ml der Mischung alle 30 min möglich), kein Anhalt für spinale Wirkung; post-OP - Motorik vollständig intakt, ganz diskrete sensorische Abschwächung von Th6-12.Was ist passiert?
Bei stabil laufender Analgesie über den PDK wie oben beschrieben, wurde am ersten post-operativen Tag früh morgens 1 Amp. Neostigmin (0,5 mg) s.c. zur Anregung der Peristaltik appliziert. Ca. eine halbe Stunde später kommt es plötzlich aus einem normofrequenten Sinusrhythmus heraus zu einer Asystolie. Sofortiger Beginn der Herzdruckmassage durch das ITS-Team - nach 20 sec. wieder normaler Sinusrhythmus am Monitor mit erkennbaren ST-Hebungen. Der Patient ist nach kurzer Bewusstlosigkeit sofort wieder wach und reagiert adäquat. Das 12-Kanal-EKG ist o.B. Etwa eine Stunde später kommt es während einer transthorakalen Herz-Echo-Untersuchung durch den Kardiologen nochmals zur Asystolie - diesmal nur ca. 10 sec. Nach Atropin-Gabe und kurzer Herzdruckmassage sofortige Rekompensation. PDK vor notfallmäßiger Korornarangiographie entfernt - weiterhin unauffälliger neurologischer Befund; kein Anhalt für intraspinale Fehllage. Koronarangio o.B. Im weiteren Verlauf bei prolongierter Intensivüberwachung keinerlei Auffälligkeiten. Bei zunehmenden Schmerzen weitere analgetische Versorgung mittels i.v.-PCA; Kardiologischerseits keinerlei Anhalt für vorbestehende Herzrhythmusstörungen oder strukturelle Herzerkrankung.
Was war besonders gut?Der Patient befand sich noch auf der IMC, wo auf die Asystolie sofort adäquat reagiert wurde. Er stand eigentlich zur Verlegung auf eine Normalstation (ohne Sufentanil aber mit Ropivacain Gabe über PDK) an, wo das Ereignis wahrscheinlich weniger schnell bemerkt und behandelt worden wäre.Wo sehen Sie die Gründe für dieses Ereignis und wie hätte es vermieden werden können?Möglicherweise fatale bradykardisierende Wirkung von PDA + Neostigmin. Diese Kombination wird - sicherlich nicht nur bei uns - regelmäßig auf Normalstation verabreicht.Welche Faktoren trugen zu dem Ereignis bei?Medikation (Medikamente beteiligt?)Wer berichtet?Arzt / Ärztin, Psychotherapeut/inDie Analyse aus Sicht des AnästhesistenIn dem Fall wird ein (fast) rein medizinisches Thema behandelt: Ein Patient mit kontinuierlicher Periduralanalgesie erhält zur Förderung der Darmperistaltik am 1. postoperativen Tag Neostigmin s.c. Eine halbe Stunde später wird er asystol. Die Asystolie wiederholt sich ca. 30 min später erneut. Der Melder vermutet, dass die Kombination aus Peridualanalgesie und Neostigmin hierfür ursächlich war und möchte mit dieser Meldung auf die Gefahr hinweisen. Die Meldung ist wichtig, denn nicht selten sind durch Einzelfallbeobachtungen schwere Nebenwirkungen von Medikamenten erstmals aufgefallen.
Neostigmin ist ein unselektiver Hemmer der Acetylcholinesterase. Entsprechend werden sowohl nikotinerge als auch muskarinerge Rezeptoren erregt. Ziel der Gabe sind meist die motorischen Endplatten – z.B. im Rahmen einer Antagonisierung von Muskelrelaxantien oder bei Myasthenia gravis. Die Stimulation der muskarinergen Rezeptoren führt dann zu Nebenwirkungen, die in Kauf genommen werden (müssen). Gefürchtet ist insbesondere die bradykardisierende Wirkung auf den AV-Knoten. Nach einer i.v.-Gabe tritt diese bei herzgesunden Patienten regelhaft auf, weshalb bei einer i.v.-Gabe stets eine Kombination mit Atropin oder Glykopyrronium erfolgen muss. Asystolie ist eine Nebenwirkung von Neostigmin, die auch in der Fachinformation aufgelistet ist. Tatsächlich tritt sie wahrscheinlich aber sehr selten ein, da die prophylaktische Gabe von Atropin oder Glykopyrronium regelhaft erfolgt. In dem Fall wurde Nesostigmin aber nicht i.v. sondern s.c. appliziert. Die Indikation war eine prophylaktische Stimulation der Darmtätigkeit am 1. postoperativen Tag. Auch wenn der propulsive Effekt von Neostigmin bekannt ist, kann die Indikation diskutiert werden. In der (abgelaufenen) Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie [1] wird die Gabe von Neostigmin bei Ogilvie-Syndrom erst nach Versagen supportiver Maßnahmen empfohlen. Die Dosierung ist dann allerdings deutlich höher (2 mg). Eine prophylaktische Behandlung einer möglichen postoperativen Darmatonie mit Neostigmin findet sich in keiner Empfehlung. Die größte Erfahrung mit dem Medikament unter der Indikation Darmstimulation haben Intensivmediziner [2]. Asystolien scheinen sehr selten zu sein, aber Bradykardien werden beobachtet. Die Suche nach Publikationen, die eine Asystolie mit Neostigmin assoziieren (Indikation Darmstimulation) führt nur zu einem Treffer [3]. Nichtsdestotrotz gibt es Stimmen, die auch bei dieser Indikation die Kombination mit Atropin oder Glykopyrronium empfehlen [4]. Anhand der Datenlage war die s.c.-Gabe von Neostigmin wahrscheinlich nicht die Ursache für die Asystolien, aber sie kann ein wichtiger Co-Faktor gewesen sein. Die Schmerztherapie erfolgte über einen Periduralkatheter. Eine Sympathikolyse senkt die Herzfrequenz. Daneben wurden und werden immer wieder reflektorische Asystolien bei Spinal- oder Periduralanästhesien beschrieben. Sie werden allerdings meist in der Einleitung, im OP-Saal oder im Aufwachraum beobachtet. Verzögert im Rahmen der postoperativen Schmerztherapie gibt es hierzu keine Daten. Deshalb gilt auch hier: Die Periduralanalgesie kann ein weiterer Co-Faktor gewesen sein. Bei der postoperativen Schmerztherapie sollte noch ein weiterer Mechanismus beachtet werden: Auch nach korrekter periduraler Applikation kommt es über die Zeit zu messbaren Plasmaspiegeln der Lokalanästhetika. Obwohl diese Spiegel nicht im toxischen Bereich liegen, kann ein gewisser Effekt auf kardiale Ionenkanäle nicht ausgeschlossen werden. Zusammenfassend hat der Melder u.U. Recht: Die Kombination eines Acetylcholinesterasehemmers mit einer Periduralanalgesie kann zu den Asystolien beigetragen haben. Dass sie diese ausgelöst haben, ist eher unwahrscheinlich, aber vielleicht haben sie eine zu Grunde liegende (kardiale?) Pathologie demaskiert, die vielleicht nicht mit den üblichen Untersuchungsmethoden nachweisbar war. Abschließend eine letzte medizinische Anmerkung: Bei einem gut funktionierenden PDK scheint die Notwendigkeit einer zusätzlichen Gabe von Neostigmin am ersten postoperativen Tag nicht unbedingt zwingend. Eine mögliche Konsequenz wäre, in Zukunft auf diese prophylaktische Routinemedikation zu verzichten.
Gemäß der Berufsordnung für Ärzte ist bereits der Verdacht auf eine unerwünschte Arzneimittelwirkung meldepflichtig (siehe § 6 Musterberufsordnung). Adressat ist die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). Die Meldung kann online, schriftlich oder auch anonym abgegeben werden (Link siehe [5]). Die AkdÄ bewertet die Meldungen und gibt sie entsprechend der Zuständigkeit an die deutschen Bundesoberbehörden weiter (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) oder Paul-Ehrlich-Institut (PEI)). Abgegebene Meldungen haben Sentinel-Charakter und sind daher im Geiste ähnlich wie Meldungen bei CIRS-AINS: Lernen für die Zukunft aus den Erfahrungen Anderer. Es gibt auch noch eine weitere Gemeinsamkeit: Die Meldequote selbst für schwere unerwünschte Arzneimittelwirkungen beträgt wahrscheinlich nur zwischen 5-10% (siehe auch [6] – eine sehr informative Broschüre der AkdÄ). Das ist schade, aber sollte keine Entschuldigung sein, keine Meldung abzugeben. In der Tabelle sind zur Erinnerung die Ereignisse aufgeführt, die von besonderem Interesse sind.
Die Analyse aus Sicht des JuristenDie jeweiligen Berufsordnungen der Landesärztekammer gelten für jeden approbierten Arzt, der im Bereich der Ärztekammer seinen Beruf ausübt oder dort seinen Wohnsitz hat. Die Regeln der Berufsordnung sind für jedes Mitglied der Ärztekammer verbindlich. Durchgesetzt werden können die Regelungen der Bundesärztekammer über das sog. „berufsrechtliche Verfahren“, das im Einzelnen in den Heilberufsgesetzen der Länder geregelt ist. Eine Verletzung der Berufspflichten kann durch Warnung, Verweis, Geldbuße, Entziehung des aktiven und passiven Kammerwahlrechts und durch die Feststellung, dass der beschuldigte Arzt unwürdig ist, seinen Beruf auszuüben, geahndet werden. Verstöße gegen die Berufsordnung können also erhebliche Konsequenzen haben.Weiterführende Literatur:
Autoren:
Prof. Dr. med. M. Hübler, Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinik Carl Gustav Carus, Dresden
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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