Fall des Monats Dezember 2017 |
06.02.2018 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Gleichzeitige Anästhesie bei mehreren Wahlleistungspatienten
Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Gleichzeitige Anästhesie bei mehreren Wahlleistungspatienten
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?Krankenhaus – OPTag des berichteten Ereignisses:WochentagVersorgungsart:RoutinebetriebASA-Klassifizierung:ASA IIIFallbeschreibung:
Eingriffe bei Wahlleistungspatienten werden zeitgleich in 4 OP-Sälen geplant. Die Patienten werden in Narkose versetzt und warten nach Hautschnitt durch die Oberärzte dann Stunden in Narkose, ohne dass in dieser Zeit operiert wird. Es handelt sich um Körperverletzung, die im Falle einer Klage nicht straffrei bliebe, da die Wartezeiten in Narkose keinen medizinischen Sinn erfüllen. Da dies regelmäßig vorkommt (ca. 1x pro Woche), ist es eine absehbare Verhinderung des Operateurs, die allen Beteiligten seit Jahren bekannt ist. Somit trägt die Anästhesie eine Mitverantwortung.
Häufigkeit des Ereignisses?jede WocheWer berichtet?Arzt / ÄrztinBerufserfahrung:bis 5 JahreDie Analyse aus Sicht des AnästhesistenDer vorliegende CIRS-Bericht thematisiert eine Vorgehensweise, die keine Seltenheit in deutschen Operationssälen darstellen dürfte: Wahlleistungspatienten werden morgens in verschiedenen OP-Sälen „en bloc“ eingeleitet und nach vorbereitenden Maßnahmen des chirurgischen Assistenten in einer kalkulierten Wartezeit in Narkose gehalten („Heilschlaf“), bis der liquidationsberechtigte Operateur mit der eigentlichen Operation beginnen kann. Nach Angaben des Melders handelt es sich in seiner Klinik um Wartezeiten im Stundenbereich. Während der geschilderte Sachverhalt bei ASA I und II-Patienten weniger sicherheitsrelevante als vor allem medikolegale und ökonomische Konsequenzen hat, kann bei Patienten mit relevanten Grunderkrankungen nicht ausgeschlossen werden, dass lange Wartezeiten in Narkose und unter kontrollierter Beatmung auch Auswirkungen auf die Patientensicherheit haben. Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn im „therapiefreien Intervall“ ohne chirurgischen Stimulus der Einsatz von Katecholaminen zur Kreislaufstabilisierung notwendig wird. Für den narkoseführenden Anästhesisten stellt sich somit regelhaft die Frage, wie er auf diese absehbare Wartezeit –welche ja ohne explizite präoperative Aufklärung durch den Operateur und ohne Einwilligung des Patienten erfolgt- reagieren soll. Dem Wunsch, ein kooperatives und vertrauensvolles Arbeitsverhältnis zur operativen Disziplin aufrecht zu erhalten stehen Bedenken um die ökonomische Sinnhaftigkeit und Legalität der Vorgehensweise und möglicherweise auch einfach Unverständnis und Ärger über ein als rücksichtslos wahrgenommenes Verhalten entgegen.Der Vertrauensgrundsatz zwischen Anästhesie und operativen Disziplinen, demzufolge jeder der Beiden sich darauf verlassen kann, dass der Partner der Zusammenarbeit die ihm obliegenden Aufgaben mit der gebotenen Sorgfalt erfüllt, stellt die Grundlage der täglichen Zusammenarbeit dar. So heißt es in der „Vereinbarung über die Zusammenarbeit bei der operativen Patientenversorgung“[1] des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten und des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen „Leitsätze für die Zusammenarbeit von Chirurgen und Anästhesisten in der prä-, intra- und unmittelbaren postoperativen Phase Der Chirurg ist nach den Grundsätzen einer strikten Arbeitsteilung zuständig und verantwortlich für die Planung und Durchführung des operativen Eingriffs, der Anästhesist für die Planung und Durchführung des Betäubungsverfahrens sowie für die Überwachung und Aufrechterhaltung der vitalen Funktionen. Beide Ärzte dürfen, solange keine offensichtlichen Qualifikationsmängel oder Fehlleistungen erkennbar werden, wechselseitig darauf vertrauen, dass der Partner der Zusammenarbeit die ihm obliegenden Aufgaben mit der gebotenen Sorgfalt erfüllt. 1. Präoperative Phase 1.1 Der Chirurg entscheidet über die Indikation zum Eingriff sowie über Art und Zeitpunkt der Operation. Der Anästhesist unterrichtet den Chirurgen umgehend, wenn aus der Sicht seines Fachgebietes Kontraindikationen gegen den Eingriff oder seine Durchführung zu dem vorgesehenen Zeitpunkt erkennbar werden. Die Entscheidung, ob der Eingriff dennoch durchgeführt werden muss oder aufgeschoben werden kann, obliegt dem Chirurgen. Wenn sich dieser entgegen den Bedenken des Anästhesisten für den Eingriff entschließt, so übernimmt er damit die ärztliche und rechtliche Verantwortung für die richtige Abwägung der indizierenden und der ihm vom Anästhesisten mitgeteilten kontraindizierenden Faktoren. Die Vereinbarung erwartet durchaus vom Anästhesisten, dass dieser dem Operateur gegenüber Bedenken und Kontraindikationen artikuliert, jedoch kann anhand der Formulierung „aus der Sicht seines Fachgebietes“ vermutet werden, dass die damaligen Verfasser primär medizinische und nicht medikolegale Aspekte oder eine ökonomisch sinnvolle Vorgehensweise im Blick hatten. Da die Vereinbarung jedoch keinen Zweifel daran lässt, dass die operative Patientenversorgung im Verantwortungsbereich beider Fachdisziplinen liegt, stellt der bewusst indizierte „Heilschlaf“ ein Problemfeld dar, welches von Seiten der Anästhesie angesprochen und gemeinsam gelöst werden muss. Diese Lösung sollte von den verantwortlichen Ärzten der jeweiligen anästhesiologischen Abteilungen bzw. Kliniken im klärenden Gespräch mit ihren operativen Partnern herbeigeführt und nicht der Einzelinitiative des narkoseführenden Anästhesisten überlassen werden (beispielsweise dadurch, dass die Narkoseeinleitung des auf dem OP-Tisch liegenden Patienten erheblich verzögert wird). Vielmehr empfiehlt es sich, die Anzahl der Fälle und die jeweiligen genau zu dokumentieren, um die Vorwürfe mittels über einen längeren Zeitraum erhobener Daten substantiieren zu können. Die morgendlichen Wartezeiten gewinnen nämlich dann an ökonomischer Relevanz, wenn elektive Punkte am Nachmittag nicht mehr begonnen werden und auf den nächsten Tag verschoben werden müssen, weil die OP-Dauer absehbar über die Regelarbeitszeit hinausgehen wird. Denn die Anästhesiologie stellt dem Operateur in der Kernarbeitszeit ihre Kompetenz und „manpower“ zur Verfügung um ein realistisch geplantes OP-Programm abzuarbeiten. Wird diese Arbeitskraft nicht in Anspruch genommen, weil absehbar Wartezeiten vorgesehen sind, so kann der Operateur nicht erwarten, dass die verlorene Zeit auf dem Weg von Überstunden wieder hereingeholt wird. Hier ist es Aufgabe des leitenden Anästhesisten, diese Position zweifelsfrei zu artikulieren und dem Operateur gegenüber zu vertreten. Kommt es hierbei wöchentlich regelhaft zu relevanten Ausfallszeiten und in Folge zu längeren Verweildauern, kann die ungenügende Auslastung der OP-Säle auch für die kaufmännische Abteilung relevant werden. Unabhängig von allen betriebswirtschaftlich orientierten Lösungsansätzen bleibt der Sachverhalt bestehen, dass die geschilderte Vorgehensweise medikolegale Konsequenzen birgt. Die Analyse aus Sicht des JuristenZwei Aspekte gilt es zu berücksichtigen:Auf der einen Seite kann, wie die anästhesiologische Analyse bereits ausgeführt hat, schon das unnötige, mithin nicht durch das operative Vorgehen indizierte „in Allgemeinanästhesie halten“ , also quasi auf Vorrat, eine mangels Einwilligung nicht gerechtfertigte Körperverletzung darstellen. Auf der anderen Seite hat der Patient, der ärztliche Wahlleistungen gewählt hat, einen Anspruch darauf, dass der vereinbarte Leistungserbringer (Wahlarzt oder vereinbarter Stellvertreter) persönlich tätig wird. Die Erbringung der Leistung durch eine andere Person, ohne dass insoweit die Einwilligung des Patienten in den Austausch des Leistungserbringers eingeholt wird, ist regelmäßig von der Einwilligung des Wahlleistungspatienten nicht gedeckt [2] und stellt ebenfalls eine Körperverletzung dar. Es bedarf erheblicher organisatorischer Anforderungen im klinischen Alltag, um den Anforderungen speziell des Wahlleistungspatienten gerecht zu werden. Diese Anforderungen werden dem Patienten aber geschuldet. Erst dann, wenn auch sorgfältige Planung eine spätere Narkoseeinleitung bzw. ein rechtzeitiges Erscheinen des Operateurs nicht gewährleisten kann – etwa bei Notfällen - wird sich die Frage stellen, ob eine mutmaßliche Einwilligung des Patienten in eine verlängerte Narkosedauer angenommen werden kann. Dies wird nur dann der Fall sein, wenn damit keine konkrete Risikoerhöhung für den Patienten verbunden ist. Das (vorhersehbare oder erwartete) Warten auf den Operateur darf keine konkrete Risikoerhöhung für den Patienten mit sich bringen! Ist von vorneherein absehbar, dass auch sorgfältige Organisation eine verlängerte Narkosedauer nicht ausschließen kann, wird sich auch die Frage stellen, ob der Patient im Rahmen der Selbstbestimmungsaufklärung darüber zu informieren ist. Zudem: Die dargestellte Organisation zur Versorgung „mehrerer Wahlleistungspatienten“ leuchtet schon im Ausgangspunkt nicht ein. Einem operativ tätigen Wahlarzt ist doch ohne weiteres möglich, seine Patienten unter persönlicher Leistungserbringung zeitlich nacheinander zu behandeln. Ggf. würde gerade dergestalt auch dem anästhesiologischen Wahlarzt ermöglicht, sich jedem dieser Patienten - nacheinander - in gehöriger Weise zu widmen. Daher stellt sich schlicht die Frage, warum im dargestellten Fall initial überhaupt mehrere Patienten in Narkose versetzt werden, woraufhin diese „Stunden“ auf die operative Behandlung warten müssen. Es darf nicht verkannt werden, dass hier weder die vorzeitige Narkoseeinleitung noch die vorzeitige Hautschnittsetzung – ohne (unmittelbar) nachfolgende operative Behandlung; mit daraus resultierenden Risiken – lege artis indiziert ist. Mithin handelt es sich insoweit im Eigentlichen schon nicht um „Heileingriffe“. Zudem ermangeln diese Eingriffe in die körperliche Integrität der Patienten deren Einwilligung. Denn diese bezieht sich auf eine (beabsichtigte) Behandlung lege artis auf der Grundlage entsprechender Aufklärung. Da das dargestellte Behandlungsagieren offenbar „geplant“ erfolgt, stehen vorsätzliche Körperverletzungsdelikte mit entsprechender Strafschärfung in Rede (vgl. §§ 223 ff. StGB). Weiterführende Literatur:
Autoren:
PD Dr. med. M. St.Pierre, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
Rechtsanwalt R.-W. Bock, Ulsenheimer - Friederich Rechtsanwälte, Berlin Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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