Fall des Monats März 2018 |
21.06.2018 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Patient entfernt sich postoperativ eigenmächtig aus dem Patientenentlassungsbereich
Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Patient entfernt sich postoperativ eigenmächtig aus dem Patientenentlassungsbereich
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?Praxis – anderer Ort: PatientenentlassungsbereichTag des berichteten Ereignisses:WochentagVersorgungsart:RoutinebetriebASA-Klassifizierung:ASA IFallbeschreibung:
Ein junger gesunder Patient stellt sich zur Prämedikation vor OP zu seiner geplanten ambulanten OP (Dauer ca. 1,5 Stunden geplant) in domo vor. ASA-1-Patient, nüchtern. Über die Frage der Betreuungsperson/Abholer wurden eine Telefonnummer und ein Name genannt. Keine Besonderheiten im Vorfeld. Der gesamte perioperative Verlauf gestaltete sich absolut komplikationslos. Die Allgemeinanästhesie erfolgte mittels TCI (Remifentanil und Propofol) präoperativ 1,5 mg Midazolam i.v. zur Anxiolyse. Postoperativ außer 600 mg Ibuprofen p.o. keine weiteren Analgetika. Nach 60 Minuten im Aufwachraum konnte der Patient in den Patientenentlassungsbereich, wo auch die Begleitpersonen hinzugerufen werden, verlegt werden. In diesem Bereich sind immer mindestens 2 Pflegekräfte vor Ort. Bei Eintreffen des Patienten eben in diesen Bereich bat er eine der Pflegekräfte darum, "kurz" eine Zigarette rauchen zu gehen. Dies wurde von uns verneint, da der Patient aufgrund seiner Nicht-Geschäftsfähigkeit nicht alleine die Klinik verlassen sollte. Der Patient nutzte dann eine Gelegenheit, in der die Pflegekräfte (im gleichen Raum!) bei anderen Patienten standen, und rannte mit seiner Tasche aus der Klinik direkt in den offenen Aufzug. Unsere betreuenden Pflegekräfte versuchten ihn noch davon abzuhalten, waren aber nicht schnell genug. Wir veranlassten direkt ein Team, das den Patienten in der näheren Umgebung suchen sollte - vergeblich.
Wohin und wie der Patient verschwunden ist, entzieht sich unserer weiteren Kenntnis. Da wir unserer Fürsorgepflicht konsequent nachgehen wollten, haben wir Kontakt mit der örtlichen Polizeidienststelle aufgenommen, und den Fall geschildert. Leider haben wir keine Rückmeldung über den weiteren Verlauf bekommen. Was war besonders gut?- Fürsorgepflicht erfüllt- Unsicherheit über Vorgehen: Info Polizei? - Für die Zukunft: Wie Patienten vom Gehen abhalten? Juristische Einschätzung? Was war besonders ungünstig?Patient entfernt sich eigenmächtig aus Einrichtung - nach Allgemeinanästhesie nicht geschäftsfähig.Häufigkeit des Ereignisses?nur dieses MalWer berichtet?Arzt / ÄrztinBerufserfahrung:über 5 JahreDie Analyse aus Sicht des AnästhesistenDie hier geschilderte Situation ist – bis auf das tatsächliche Verschwinden des Patienten – wahrscheinlich jedem Anästhesisten, der ambulante Patienten betreut, geläufig. Insbesondere jüngere (männliche) Patienten mit wenigen oder keinen Vorerkrankungen haben oft wenig Verständnis für unsere Kompromisslosigkeit bzgl. Abholen, Begleitperson und kontinuierliche Überwachung. 3 Motivationen sind denkbar, die zum Verschwinden des Patienten geführt haben:
In der bereits zitierten Vereinbarung [1] steht in dem Abschnitt „Soziale Aspekte“ auch folgender Absatz: „Die Person, die die Versorgung des Patienten gewährleistet, muss in der Lage sein, die ärztlichen bzw. organisatorischen Instruktionen zu verstehen sowie physisch und mental fähig sein, notwendige Entscheidungen zum Wohle des Patienten zu treffen.“ Hand aufs Herz: Wer überprüft immer, ob die abholende Person diese Voraussetzungen erfüllt? Wie ist es mit der Verantwortlichkeit des Anästhesisten, wenn die abholende Person nur eine Placebo-Funktion ausübt, den Patienten lediglich nach Hause (oder zu seinem Auto) bringt und sich dann verabschiedet? Muss man überprüfen, ob die betreuende Nachbarin tatsächlich die Nacht in der anderen Wohnung verbringt, um ihrer Verantwortung nach zu kommen? Diese Fragen gehen zwar etwas über die Falldarstellung hinaus, die Antworten sind aber für jeden Arzt, der ambulante Sedierungen und Anästhesien durchführt, von großer Bedeutung. Betrachtet man den Fall unter dem Aspekt, wie sich eine Wiederholung verhindern lassen könnte, so drängen sich bauliche Veränderungen auf. Denkbar ist z.B. das Anbringen eines Schließmechanismus, welches erst nach Eingabe eines Türcodes geöffnet werden kann. Dabei muss es natürlich einen Notknopf für tatsächliche Notfälle wie z.B. Feuerevakuierung geben. Eine andere Möglichkeit wäre, dem Patienten bei der Aufnahme vor der Operation alle Wertsachen gegen eine Quittung abzunehmen und diese erst bei Abholung wieder auszuhändigen. Ein solches Vorgehen könnte zumindest die Hemmschwelle für ein vorsätzliches Fehlverhalten erhöhen. Zuletzt noch eine weitere Anmerkung: Ausschließlich ambulant tätige Chirurgen kennen die Bedeutung der weiteren Betreuung ihrer Patienten und informieren diese bei der chirurgischen Aufklärung und OP-Planung entsprechend. Anders ist dies oft bei Chirurgen, die nur gelegentlich ambulante Operationen durchführen. Manchmal sind diese mit dem Prozedere nicht so vertraut oder vergessen es zu erwähnen. Nicht selten sind die Patienten dann überrascht, wenn sie vom Anästhesisten am OP-Tag zur Nachbetreuung befragt werden. Schließlich ist es nicht unüblich, dass die Prämedikation auch erst dann stattfindet. Daher ist es wichtig, mit dem Chirurgen abzusprechen, dass die Patienten die notwendigen Informationen möglichst früh erhalten. Die Analyse aus Sicht des Juristen1. Der vorgestellte Fall kann als solcher juristisch nicht umfänglich bzw. abschließend bewertet werden, da einige Sachverhaltsumstände und Fragen dazu offen bleiben. Dies ergibt sich auch bereits aus der vorangehenden Analyse aus Sicht des Anästhesisten, in welcher „denkbare“ Sachverhaltskonstellationen angesprochen werden. Neben den drei explizit ausgeführten Möglichkeiten könnte gerade auf der Grundlage der Falldarstellung konkret eine weitere Sachverhaltskonstellation in Rede stehen, welche lediglich anmerkende Erwähnung im Zusammenhang mit der chirurgischen bzw. operativen Organisation ambulanter Eingriffstätigkeit findet (letzter Absatz der Analyse aus Sicht des Anästhesisten): Vorliegend verhielt es sich doch offensichtlich so, dass die anästhesiologische Involvierung in das Behandlungsgeschehen tatsächlich erst mit der Vorstellung des Patienten „zur Prämedikation vor OP“ erfolgte. Mithin war der Patient eventuell tatsächlich überrascht, erstmals zu hören, postoperativ von einer Begleitperson abgeholt werden zu müssen. Eventuell plante er demgemäß eine „postoperative Flucht“, um die anstehende Eingriffsdurchführung, auf welche er sich eingestellt hatte, nicht zu gefährden.2. Zur Fallkonstellation ist grundsätzlich auch Folgendes anzumerken:
3. Vor dem Hintergrund der vorangehenden Ausführungen bleibt in der Falldarstellung offen, ob - schon seitens des operativen Fachs sozialanamnestisch präoperativ erhoben wurde, dass nach Entlassung des Patienten aus der Klinik seine eventuell erforderliche Versorgung tatsächlich möglich war; beginnend mit der Abholung durch eine Begleitperson, - dem Patienten tatsächlich rechtzeitig präoperativ aufklärend erläutert wurde, dass seine postoperative Versorgung in Eigenregie zu gewährleisten ist, - dem Patienten klar war, welche Risiken für ihn aus der vorgängigen Behandlung in der unmittelbaren Postoperativphase bis zur Entlassung aus der Klinik und auch noch darüber hinaus resultierten, - der Patient tatsächlich bereits „entlassungsfähig“ war, da bzw. obgleich er sich bereits im „Patientenentlassungsbereich“ aufhalten durfte. Das festzustellen hätte der Durchführung einer operativen und anästhesiologischen Entlassungsuntersuchung unterliegen müssen (laut Falldarstellung hätte der Patient unter Abholung durch eine Begleitperson die Klinik doch sofortig verlassen dürfen). 4. Möglicherweise wäre die unverständliche „Flucht“ des Patienten in der Zeitphase des Behandlungsendes in der Klinik vermieden worden, wenn die Maßgaben, Empfehlungen und Vereinbarungen zu Kriterien Ambulanten Operierens auf der Grundlage eines zwischen den beteiligten Fachgebieten abgestimmten Organisationsstatus von Anfang an adäquat „abgearbeitet“ worden wären. Beispielsweise wird in der o.a. Vereinbarung [1] auch davon ausgegangen, dass Patienten schriftliche Aufklärungsunterlagen zu perioperativen Erfordernissen bzw. zum perioperativen Eigenverhalten „bereits im Rahmen der präoperativen Anästhesiesprechstunde“, d.h.: vor dem Tag der Eingriffsdurchführung, ausgehändigt und mit ihnen erörtert werden. Unbeschadet dessen ist vorliegend konkret zu problematisieren, was es im Zusammenhang mit der postoperativen Überwachung und Entlassung von Patienten nach ambulanter Eingriffsdurchführung zu beachten gilt:
Dergestalt resultiert insbesondere die Verpflichtung zur adäquaten postoperativen Überwachung bzw. Kontrolle von Patienten bis zur positiv festgestellten Entlassungsfähigkeit und nachfolgend organisierten Entlassung.
Weiterführende Literatur:
Autoren:
Prof. Dr. med. M. Hübler, Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinik Carl Gustav Carus, Dresden
Rechtsanwalt R.-W. Bock, Ulsenheimer - Friederich Rechtsanwälte, Berlin Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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