CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Anästhesie-Pflegemangel eskaliert
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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Anästhesie-Pflegemangel eskaliert
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten?
Krankenhaus - OP
Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag
Versorgungsart:
Routinebetrieb
ASA-Klassifizierung:
ASA II
Wichtige Begleitumstände:
Extrem ausgedünnte Personaldecke in der Anästhesiepflege. Es sind 3 Pflegekräfte für 7 OP-Säle vorhanden
Fallbeschreibung:
Bei maximaler personeller Ausdünnung des Anästhesiepflegepersonals wechselt dieses permanent zwischen Ein- und Ausleitungen hin und her ("Springen" der Pflege). Teilweise ist keine Assistenz bei Ausleitungen verfügbar, bzw. kommt nur auf Nachfrage, wenn ein Notruf erfolgt. Der Anästhesist kompensiert dies mit langjähriger Berufserfahrung.
Anästhesiepflegekräfte werden auch aus dem Aufwachraum (11 Plätze) abgezogen, so dass zeitweise nur 1 Pflegekraft im Aufwachraum anwesend ist. Dem OP-Koordinator untersteht das Anästhesie- und OP-Funktionspflegepersonal. Die Situation ist nicht durch Notfälle/dringliche Eingriffe bedingt, sondern es handelt sich um Routine-/Elektivprogramm.
Was war besonders gut?
Keine Zwischenfälle
Was war besonders ungünstig?
Das Erzwingen des OP-Programms; die Inkaufnahme einer Unterversorgung; es werden bei Elektiveingriffen ‚Löcher mit Löchern gestopft‘; es herrscht eine Kultur des Anschwärzens bei Nichterfüllung von Vorgaben (z.B. soll eine bestimmte Anzahl von OP-Sälen laufen); letztlich geht Ökonomie vor Patientensicherheit.
Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?
Dieser Sachverhalt muss auf höchster Ebene geklärt werden
Häufigkeit des Ereignisses?
jede Woche
Wer berichtet?
Arzt / Ärztin
Berufserfahrung:
über 5 Jahre
Die Analyse aus Sicht des Anästhesisten
In der vorliegenden Meldung wird das Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Sicherheit am Beispiel einer chronischen Unterbesetzung des Anästhesiepflegepersonals thematisiert. Die Unterbesetzung des Anästhesiepersonals (-der Melder berichtet davon, dass 3 Pflegekräfte für 7 OP-Säle verantwortlich sind-) führt zu einer Leistungsverdichtung für den jeweiligen Mitarbeiter. Eine Anpassung des OP-Programms im Sinne einer Reduktion der zu betreibenden Säle scheint nach Angaben des Melders nicht gegeben zu sein. Da weder zu den lokalen Besonderheiten der meldenden Klinik noch zu den Motiven des OP-Managers eine Einschätzung gegeben werden kann, muss an dieser Stelle eine allgemeine Betrachtung genügen.
Die Analyse der geschilderte Situation soll auf zwei kritische Aspekte fokussieren, die sich aus dem Betrieb des OP bei personeller Unterbesetzung ergeben: a) ist die Anwesenheit einer Pflegekraft zur Ausleitung notwendig und b) wie viel Pflegepersonal ist zur Besetzung eines Aufwachraums notwendig?
a) Die personelle Ausstattung des anästhesiologischen Arbeitsplatzes ist in den Empfehlungen der DGAI und des BDA "Mindestanforderungen an den anästhesiologischen Arbeitsplatz" als Fortschreibung der Richtlinie "Qualitätssicherung in der Anästhesiologie" zweifelsfrei festgelegt.
Bezüglich des Assistenzpersonals legt sich die Empfehlung wie folgt fest (2.2):
"2.2 Assistenzpersonal
Die Ein- und Ausleitung einer Allgemeinanästhesie sowie die Anlage einer Regionalanästhesie erfordern entsprechend qualifizierte Assistenz. Während dieser Zeit darf das Assistenzpersonal nicht mit anderen Aufgaben betraut sein. Es muss mit der Ausrüstung sowie den örtlichen Gegebenheiten (z.B. Aufbewahrungsorte für Medikamente und Verbrauchsmaterialien) vertraut sein. Es muss auch während aller übrigen Phasen des Anästhesieverfahrens für besondere Situationen (z.B. Umlagerungen, Notfälle) jederzeit verfügbar sein."
Zu beachten sind die Formulierungen "darf ... nicht" und "Es muss". Somit ist eindeutig festgelegt, dass es weder eine Ein- oder Ausleitung ohne anästhesiologische Pflegekraft geben darf, noch eine Situation entstehen darf, in der keine Assistenz verfügbar ist.
Zwei praktische Konsequenzen ergeben sich aus meiner Sicht, wenn die Patientensicherheit gewährleistet sein soll:
Wenn Personal fehlt, kann nicht so gearbeitet werden, wie dies mit vollständiger Personaldecke möglich wäre. Das OP-Programm muss auf wenige Säle reduziert werden.
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Es muss mit Ein- und vor allem auch Ausleitungen gewartet werden, bis eine Pflegekraft anwesend ist.
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Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich dahingehend festgelegt, dass Aspekte der sicheren Patientenversorgung niemals hinter ökonomischen Aspekten zurückstehen dürfen.
Unabhängig von der rechtlich eindeutigen Situation sollte mitbedacht werden, dass die geschilderte Vorgehensweise kurzfristig Erleichterung bringen mag (-weil der OP-Plan abgearbeitet wird-), die damit verbundene erhöhte Arbeitsbelastung des Personals und die implizit kommunizierte Botschaft einer Missachtung persönlicher Grenzen mittel- bis langfristig jedoch genau das Gegenteil herbeiführen kann: Für die Geschäftsführung ist aufgrund des vollständig abgearbeiteten OP-Plans kein Grund erkennbar, an der augenblicklichen Lage etwas zu ändern, was zu einer ‚Chronifizierung‘ des Problems führen kann. Mitarbeiter der Anästhesiepflege wiederum könnten die Arbeitsbelastung und Missachtung persönlicher Bedürfnisse als Anlass dafür sehen, sich einen anderen Arbeitgeber zu suchen, sodass die Situation am Ende noch schwieriger zu bewältigen sein wird. Es ist die Erfahrung vieler anästhesiologischer Abteilungen, dass nur die Einhaltung der medikolegal vorgegebenen Rahmenbedingungen mit der damit verbundenen Reduktion der OP-Kapazität das Problembewusstsein soweit erhöhen kann, dass konstruktive Veränderungen unabdingbar werden.
b) BDA und DGAI haben verbindliche Empfehlungen zur Überwachung nach Anästhesieverfahren gegeben, die im Hinblick auf den Personenschlüssel den Verantwortlichen der Klinik Ermessensspielräume gewähren. Hierin heißt es unter anderem (…):
2.3 Struktur der Aufwacheinheit
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Die AWE ist als eigenständige, einem OP-Trakt zugehörige Funktionseinheit anzusehen.
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Die AWE und ihr Personal stehen unter anästhesiologischer Verantwortung. Solange sich der Patient in der AWE befindet, fällt die Überwachung und Aufrechterhaltung der vitalen Funktionen in die Zuständigkeit und Verantwortung des verantwortlichen Anästhesisten (vgl. 1.4).
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Für die lückenlose Überwachung der Patienten in der AWE müssen gesonderte Planstellen für fachspezifische Pflegekräfte ("Fachpflegestandard") ausgewiesen werden. Der Personalbedarf richtet sich nach der Betriebszeit der Aufwacheinheit, der Anzahl der gleichzeitig zu überwachenden Patienten, deren Pflegekategorie sowie der zeitlichen Verteilung der anfallenden Überwachungszeiten (Hervorhebung durch Analysierenden).
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Eine ständige ärztliche Präsenz in der AWE ist wünschenswert. In jedem Fall muss jedoch ein kompetenter Anästhesist kurzfristig verfügbar sein. Liegen besondere Umstände (z.B. Übernahme zusätzlicher Funktionen, keine unmittelbare Anbindung an die Operationsanlage, hoher Anteil an beatmeten Patienten) vor, muss während der Betriebszeit der AWE auch im ärztlichen Dienst ein zusätzlicher Personalbedarf eingeplant werden
Wenngleich sich in der Meldung keine Angaben bezüglich Schwere der Erkrankung der Patienten und Höhe des Pflegeaufwandes ergeben, so ist die Klinik dennoch gut beraten, den von Ihnen geschilderten Sachverhalt daraufhin zu überprüfen, ob es sich um eine selten auftretende Ausnahme oder um eine - wie Sie mit Ihrer Einstufung „jede Woche“ vermuten lassen - regelhaft zu findende Konstellation handelt, und damit bei der Anzahl der gleichzeitig zu überwachenden Patienten, deren Pflegekategorie sowie der zeitlichen Verteilung der anfallenden Überwachungszeiten unter dem momentan gegebenen pflegerischen Personalschlüssel eine sichere Überwachung nicht jederzeit gegeben ist. Dies ist deswegen zu empfehlen, da die Verantwortlichen in den Kliniken, allen voran der anästhesiologische Chefarzt oder Klinikdirektor wissen müssen, dass sie dann, wenn sie von den fachlichen Vorgaben abweichen wollen wie sie in den Empfehlungen des Berufsverbandes und der Fachgesellschaft zweifelsfrei niedergelegt wurden, sich bei einem eventuellen Zwischenfall rechtfertigen müssen, warum sie gleichwohl die Patientenversorgung als gesichert angesehen haben. Denn die Rechtsprechung, insbesondere die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, steht nach wie vor auf dem Standpunkt, dass im Spannungsfeld zwischen Wirtschaftlichkeitserwägungen und Patientensicherheit der Patientensicherheit stets Vorrang einzuräumen ist. Ökonomische Aspekte können also die Reduzierung fachlich geforderter Standards niemals rechtfertigen.
Die Analyse aus Sicht des Juristen
Durch das Patientenrechtegesetz wurde u.a. das Bürgerliche Gesetzbuch durch acht Paragrafen ergänzt, die den Behandlungsvertrag regeln. Nach § 630 a Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) hat die Patientenversorgung den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu genügen. Die Begründung der Bundesregierung zum Gesetzentwurf (Bundestagsdrucksache 17/10488 vom 15.08.2012, S. 19) hat festgestellt, dass sich die Standards in der Medizin primär auf die Art und Weise der Erbringung der Behandlung beziehen und das insoweit maßgeblich „regelmäßig Leitlinien“ sind, „die von den wissenschaftlichen Fachgesellschaften vorgegeben werden“. Mit anderen Worten: Es ist den Fachgebieten vorbehalten, die für ihr Gebiet geltenden Standards zu definieren. Die Fachgebiete definieren, was im Rahmen der Struktur- und Prozessqualität erforderlich ist. Zur erforderlichen Qualität gehört auch eine adäquate personelle Ausstattung, nicht nur im ärztlichen, sondern auch im pflegerischen (Assistenz-) Bereich. Allen fachlichen Verlautbarungen zum Personalbedarf liegt die Idee zugrunde, dass der Anästhesist im Rahmen der Versorgung eines Patienten Anspruch auf qualifizierte nicht-ärztliche Assistenz hat, dies in jeder Phase eines Anästhesieverfahrens, insbesondere aber bei Ein- und Ausleitung [1]. Wenn vor Ort aufgrund personeller Engpässe Kompromisse gefordert werden, ist der Hinweis wichtig, der schon in der anästhesiologischen Analyse gegeben wurde: Die Rechtsprechung sowohl in Zivil-, aber auch in Strafsachen steht nach wie vor auf dem Standpunkt, dass im Spannungsverhältnis zwischen Wirtschaftlichkeitserwägungen und Sorgfaltspflichten zugunsten des Patienten, aber auch zugunsten der Ärzte, denen rechtliche Konsequenzen bei einem auf Personalmangel beruhenden Schaden drohen, Vorrang einzuräumen ist.
Auch arbeitsrechtlich ist der Krankenhausträger verpflichtet, den Ärzten die erforderliche personelle Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Hier sei auf das Urteil des Arbeitsgerichtes Wilhelmshaven vom 23.09.2004, Az. II CA 212/04 verwiesen [2]. Dort hat das Arbeitsgericht einem Chefarzt einen arbeitsrechtlichen Anspruch gegen den Krankenhausträger auf zur Verfügung Stellung der notwendigen Personalreserve gegeben. Das Arbeitsgericht weist darauf hin, dass der Krankenhausträger verpflichtet ist, den Ärzten die zur vertragsgemäßen Arbeit erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen: „Dazu gehören nicht nur ein Arbeitsplatz und sonstige sächliche Arbeitsmittel, sondern auch die personellen Mittel. Kann ein Arbeitnehmer seine vertragsgemäße Arbeit nur zusammen mit anderen Arbeitnehmern oder mit deren Mithilfe ausüben, muss der Arbeitgeber dafür sorgen, dass diese anderen Personen zur Verfügung stehen.“ Mit anderen Worten: Der Krankenhausträger ist verpflichtet, für einen ausreichenden Personalstand im ärztlichen, aber auch im pflegerischen Bereich zu sorgen, so dass die Patientenversorgung – innerhalb und außerhalb der Regeldienstzeiten – den in den Fachgebieten definierten Standards genügt. Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg (Urteil vom 11.10.2013, Az. 12 Sa 15/13) sprach einem Chefarzt ein Recht zur außerordentlichen Kündigung seines Dienstverhältnisses zu, weil der Krankenhausträger ihm trotz wiederholter Mahnungen kein ausreichendes nicht-ärztliches Personal zur Verfügung stellte. Auch dies begründete das Arbeitsgericht damit, dass nur bei ausreichender Personalausstattung eine vertragsgemäße Beschäftigung in der jeweiligen Fachabteilung möglich war.
Im Ergebnis spiegeln sich mithin die fachlichen Anforderungen an die Personalausstattung im ärztlichen wie nicht-ärztlichen Bereich sowohl im Haftungs- wie im Arbeitsrecht wider. Dies mag den Hinweisen der Ärzte auf Mängel in der Personalausstattung gegenüber der Geschäftsführung Nachdruck verleihen.
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Die Ein- und Ausleitung einer Allgemeinanästhesie sowie die Anlage einer Regionalanästhesie erfordern entsprechend qualifizierte Assistenz. Eine Ein- oder Ausleitung ohne pflegerisches Assistenzpersonal ist nicht statthaft.
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Ein unveränderter OP-Betrieb mit reduziertem Personal kann kurzfristig Erleichterung bringen, langfristig jedoch die falschen Signale an die Geschäftsleitung und die kompensierenden Pflegekräfte senden.
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Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes steht auf dem Standpunkt, dass im Spannungsfeld zwischen Wirtschaftlichkeitserwägungen und Patientensicherheit der Patientensicherheit stets Vorrang einzuräumen ist. Ökonomische Aspekte können die Reduzierung fachlich geforderter Standards niemals rechtfertigen.
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Wenn Personal fehlt, kann nicht so gearbeitet werden, wie dies mit vollständiger Personaldecke möglich wäre. Das OP-Programm muss auf wenige Säle reduziert werden.
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Die Verantwortlichen in den Kliniken müssen wissen, dass sie dann, wenn sie von den fachlichen Vorgaben abweichen wollen wie sie in den Empfehlungen des Berufsverbandes und der Fachgesellschaft zweifelsfrei niedergelegt wurden, sich bei einem eventuellen Zwischenfall rechtfertigen müssen, warum sie gleichwohl die Patientenversorgung als gesichert angesehen haben.
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Weiterführende Literatur:
Autoren:
PD Dr. med. M. St.Pierre, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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