CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Pathologischer EKG-Befund wird präoperativ nicht erkannt
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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Pathologischer EKG-Befund wird präoperativ nicht erkannt
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten:
Krankenhaus – OP
Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag
ASA-Klassifizierung:
ASA II
Patientenzustand:
orientiert, guter Allgemeinzust
Wichtige Begleitumstände:
Im Rahmen der Unterlagenprüfung am Vortag der OP fiel der pathologische EKG-Befund weder orthopädisch noch anästhesiologisch auf.
Fallbeschreibung:
Ein Patient stellt sich prästationär zur OP-Vorbereitung vor.
Anamnestisch kein Hinweis auf Herzrhythmusstörungen, subjektives Wohlbefinden.
Am Vormittag wurde routinemäßig ein EKG durchgeführt. Hier zeigt sich eine bisher nicht bekannte absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern. Es erfolgte jedoch keine unmittelbare Befundung.
Da die Prämedikation zu einem späteren Zeitpunkt erfolgte, muss davon ausgegangen werden, dass dem prämedizierenden Anästhesiearzt das EKG vorlag.
Von ihm wurde keine Auffälligkeit dokumentiert.
Der unbefundete EKG-Ausdruck wurde kommentarlos in der Akte abgeheftet.
Die internistische Befundung wurde nachweislich später durchgeführt. Der Befund wurde nicht fachärztlich validiert und wurde nicht an die Station weitergeleitet.
Am OP-Tag bekam der Patient seine präoperative Medikation (BTM) und wurde in den OP eingeschleust. In der Anästhesieeinleitung fiel nach Anschließen der Monitorüberwachung die absolute Arrhythmie auf. Wegen mangelnder Abklärung musste die OP-Einleitung an dieser Stelle abgebrochen werden.
Was war besonders gut?
Der Patient hat keinen Schaden genommen.
Was war besonders ungünstig?
Der Arzt hat die Prämedikation unterbrochen und wurde weggerufen.
Wo sehen Sie die Gründe für dieses Ereignis und wie hätte es vermieden werden können?
Der Prozess ist an der Stelle nicht belastbar. Die Checkliste "Vorbereitung zur Operation" sollte um den Passus "Liegen alle Befunde schriftlich vor?" ergänzt werden.
Welche Faktoren trugen zu dem Ereignis bei?
- Teamfaktoren (Zusammenarbeit, Vertrauen, Kultur, Führung etc.)
- Organisation (zu wenig Personal, Standards, Arbeitsbelastung, Abläufe etc.)
- Kontext der Institution (Organisation des Gesundheitswesens etc.)
Wie häufig tritt dieses Ereignis ungefähr auf?
erstmalig
Wer berichtet?
Arzt / Ärztin, Psychotherapeut/in
Die Analyse aus Sicht des Anästhesisten
Der medizinische Aspekt des Falls ist eindeutig. Als die Rhythmusstörung in der Anästhesieeinleitung auffiel, wurde korrekt gehandelt und vor der Durchführung der Narkose weitere Diagnostik eingeleitet. Für den Patienten war dies ärgerlich aber zu seinem Besten. Die Lernbotschaft aus dem Fall ist aber eine andere und betrifft insbesondere juristische Aspekte. Jeder Anästhesist weiß, dass eine fehlende Kontrolle von Untersuchungs- oder Testergebnissen täglich vorkommt und wir wollen uns deshalb in diesem Fall-des-Monats mit dieser Thematik einmal grundsätzlich auseinandersetzen.
Vor einigen Jahren hat sich der BGH mit einem ähnlichen Fall beschäftigt. Dort ging es um eine Röntgenthoraxaufnahme, die von dem Anästhesisten angeordnet aber nicht mit einer radiologischen Facharztexpertise befundet worden war. Bei dem Patienten wurde ein Lungenrundherd übersehen, so dass das Lungenkarzinom erst deutlich verspätet diagnostiziert wurde [1]. Das Urteil ist insofern sehr interessant, da es um die Abgrenzung Befunderhebungs- versus Diagnosefehler geht. Der BGH kommt zu dem Schluss:
"Den Arzt verpflichten auch die Ergebnisse solcher Untersuchungen zur Einhaltung der berufsspezifischen Sorgfalt, die medizinisch nicht geboten waren, aber trotzdem – beispielsweise aus besonderer Vorsicht – veranlasst wurden."
Der Satz ist juristisch und etwas schwer verständlich formuliert. Er besagt, dass jede angeordnete Untersuchung auch entsprechend befundet werden muss. Und – das ist wesentlich – die Forderung gilt auch, wenn die Untersuchung medizinisch nicht indiziert war.
Der Melder erwähnt, dass es sich um einen ASA 2-Patienten handelte und dass das präoperative EKG aus Routine angeordnet wurde. Zufällig gab es einen pathologischen Befund, der übersehen wurde, da niemand präoperativ das Ergebnis der Untersuchung kontrollierte. Grundsätzlich gehören präoperative, apparative Routineuntersuchungen in die Lehrbücher für Geschichte der Medizin. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die belegen, dass nur extrem selten Auffälligkeiten bei symptomlosen Patienten gefunden werden [2]. Zusätzlich sind zufällig gefundene pathologische Befunde oft ohne klinische Relevanz und werden – selbst falls sie relevant sind – häufig nicht wahrgenommen. Symptomfreiheit muss vor einem Verzicht auf weitergehende apparative Diagnostik allerdings zwingend festgestellt werden.
Auch die Empfehlungen der Fachgesellschaften [3] tragen diesem Umstand Rechnung. Dort steht unter Allgemeinen Prinzipien: „Grundlage jeder präoperativen technischen Untersuchung ist […] eine sorgfältige Anamnese einschließlich einer Blutungsanamnese […], eine orientierende körperliche Untersuchung sowie die Ermittlung der körperlichen Belastbarkeit des Patienten.“
Diese Aussage schließt nicht aus, dass es Standards für präoperative apparative Untersuchungen geben kann. Trigger sind dann allerdings bei klinisch unauffälligen Patienten z.B die Art und der Umfang des geplanten operativen Eingriffs.
Das eigentliche Thema dieses Fall-des-Monats lautet aber: Wie kann sichergestellt werden, dass alle Befunde stets mit dem entsprechenden medizinischen Wissen rechtzeitig beurteilt werden? Eine einfache Antwort gibt es nicht, aber vor der Befundanforderung muss eine Indikation stehen. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass das Ergebnis der Untersuchung/des Tests auch kontrolliert wird. Die Kontrolle muss nicht nur durch den „Anordner“ erfolgen, aber er muss dafür Sorge tragen, dass sie erfolgt. Eine Delegation an die operativen Kollegen ist denkbar, falls entsprechende Vereinbarungen existieren.
Die Analyse aus Sicht des Juristen
Vorweg: Die der o.a. BGH-Entscheidung zugrundeliegende Fallkonstellation ist mit vorliegendem Sachverhalt nicht vergleichbar. Allerdings grenzt der BGH in der Entscheidung die Begriffe „Befunderhebungsfehler“ und „Diagnoseirrtum“ nochmals voneinander ab. Demnach ist ein Befunderhebungsfehler gegeben, „wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird“. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, „wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachgebiets gebotenen – therapeutischen oder diagnostischen – Maßnahmen ergreift“ [4].
Demgemäß dürfte vorliegend ein Befunderhebungsfehler in Rede stehen, indem die bei dem Patienten objektiv gegebene absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern vor anästhesiologischem Eingriffsbeginn („in der Anästhesieeinleitung“) unbeschadet ihrer apparativ-technischen Darstellung angeblich keine Befundfeststellung, d.h. hier „Erhebung“, gefunden hat.
Dabei muss dahinstehen, welche Bedeutung insoweit dem vorab „routinemäßig“ durchgeführten EKG mit Darstellung der Befundauffälligkeit, jedoch ohne „unmittelbare Befundung“ im o.a. Sinne, zukommt.
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Eventuell lag die EKG-Aufzeichnung (insbesondere) weder zum Zeitpunkt der anästhesiologischen Prämedikation noch zum Zeitpunkt der Unterlagenprüfung am Vortag der OP der Krankenakte bei. Ggf. hätte dies allerdings auffallen können und müssen, da eine entsprechende Untersuchung – offenbar organisatorisch vorgegeben – „routinemäßig“ durchzuführen war. Ihr Ergebnis also hätte vorliegen müssen.
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Eventuell wurde die EKG-Aufzeichnung insbesondere bei der Prämedikation zwar zur Kenntnis genommen, aber tatsächlich nicht befundet. Dazu hätte allerdings – schon alleine, weil die EKG-Aufzeichnung ggf. vorlag – Verpflichtung bestanden (vgl. dazu die o.a. Analyse aus Sicht des Anästhesisten und [4]).
Allerdings soll es sich laut Sachverhaltsdarstellung so verhalten haben, dass der Anästhesist, dem die Prämedikation oblag, von dieser weggerufen worden sei, weshalb er sie unterbrochen (abgebrochen?) habe. Mithin steht auch in Frage, ob überhaupt eine gehörig umfängliche Prämedikation als solche erfolgte. Ggf. hätte die kardiale Befundauffälligkeit wohl unabhängig vom Vorliegen einer EKG-Aufzeichnung festgestellt werden und zu einer entsprechenden Abklärung führen müssen (vgl. dazu die o.a. Analyse aus Sicht des Anästhesisten).
Jedenfalls wäre im präoperativen Behandlungsgang sicherzustellen gewesen und hätte es sich so verhalten müssen, dass der (prämedizierende) Anästhesist den Chirurgen bzw. Operateur umgehend unterrichtet, „wenn aus der Sicht seines Fachgebiets Bedenken gegen den Eingriff oder seine Durchführung zu dem vorgesehenen Zeitpunkt erkennbar werden“ [5], wie es dann offenbar erst verzögert in der Anästhesieeinleitung der Fall war.
Der Sachverhalt bietet Veranlassung, etwa „versteckten Risiken“ im fraglichen Behandlungsgang unter folgenden individuellen und organisatorischen Aspekten nachzugehen:
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Indikationsgerechte Maßgaben zur routinemäßigen Durchführung von Untersuchungen gemäß fachmedizinischem Standard.
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Sicherstellung der zeitgerechten Befundung angeordneter Diagnostik samt adäquater Beigabe zu den Behandlungsunterlagen bzw. zur gezielten Kenntnis „wen es angeht“.
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Gewährleistung stets personell qualifizierter, zeitgerechter und individuell adäquat umfänglicher Prämedikation [3].
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Sicherstellung einer effektiven präoperativen Unterlagenprüfung vor Freigabe des Patienten zur (auch bereits anästhesiologischen) Eingriffsdurchführung.
Zusammenfassend ist eine fehlerhafte Behandlung des Patienten, wohl auch resultierend aus Organisationsdefiziten, zu konstatieren. Mangels (unterstellt) invasiver Maßnahmen, wozu im Übrigen auch bereits Medikationen gehören, hatte dies – jenseits frustraner Vorstellungen zur Behandlungsdurchführung mit entsprechenden Unannehmlichkeiten – jedoch keine körperliche Beeinträchtigung bzw. Schädigung des Patienten zur Folge. Dabei hätte die Charakterisierung des Behandlungsfehlers als „Befunderhebungsfehler“ im Eigentlichen erst Bedeutung im Rahmen eines Zivilprozesses.
Gemäß § 630h Abs. 5 BGB resultiert aus der Feststellung eines sogenannten Befunderhebungsfehlers die Umkehr der Beweislast zum Nachteil der Behandlerseite mit der Vermutung, dass der Behandlungsfehler für eine Schädigung des Patienten ursächlich war. Der dann zu führende Gegenbeweis gelingt vielfach nicht.
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Die Anforderung von Routineuntersuchungen gehört in die Lehrbücher für Geschichte der Medizin. Trigger sollten die Art des Eingriffs sowie individuelle Patientenfaktoren sein, die durch Anamnese und körperliche Untersuchung erfasst werden. Die Leitlinien der Fachgesellschaften unterstützen dieses Vorgehen.
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Wird eine Untersuchung/ ein Test angefordert, muss sichergestellt werden, dass der Befund auch kontrolliert wird, auch wenn die Untersuchung/der Test medizinisch nicht indiziert war.
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Insbesondere auch das präoperative Behandlungsregime als solches ist gemäß einzuhaltendem medizinischen Standard lege artis zu gestalten. Dies betrifft anästhesiologisch vor allem auch die Prämedikation des Patienten.
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Zur Sicherung adäquater präoperativer Patientenbehandlung bedarf es dahingehend adäquater Organisation mit standardgemäßen Maßgaben.
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Weiterführende Literatur:
Autoren:
Prof. Dr. med. M. Hübler, Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinik Carl Gustav Carus, Dresden
Rechtsanwalt R.-W. Bock, Ulsenheimer - Friederich Rechtsanwälte, Berlin
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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