CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Patient wird "gegen seinen Willen" operiert
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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Patient wird "gegen seinen Willen" operiert
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten:
Krankenhaus
Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag
Versorgungsart:
Routinebetrieb
ASA-Klassifizierung:
ASA IV
Patientenzustand:
Wach, ansprechbar, nicht orientiert zu Zeit und genauem Ort, jedoch zu Person und Situation.
Wichtige Begleitumstände:
Bereitschaftsdienst an einem Wochentag
Fallbeschreibung:
Ein hochbetagter Patient erlitt einen Sturz vor 1 Woche und erlitt eine Femurhalsfraktur. Die initiale Einlieferung erfolgte in ein anderes Haus. Er wurde aus Kapazitätsgründen in unsere Klinik verlegt. Der Patient hatte bereits eine unversorgte Fraktur. Er lehnte damals bereits eine operative Versorgung/Anästhesie ab.
Anästhesiologisch wurde der Patient 48 h vor dem Ereignis in unserer Klinik zum Prämedikationsgespräch gesehen und seitens des Anästhesisten abgelehnt. Er schien zwar nicht zu allen Qualitäten orientiert, aber es gab keine Betreuung und er formulierte klar, dass er nicht mehr operiert werden wollte. Das Protokoll dazu war im Narkoseeinleitungsraum vorhanden. Nun wurde seitens der operativen Klinik eine Notfallindikation zur operativen Versorgung gestellt. Der Patient wurde in Allgemeinanästhesie operiert.
Was war besonders gut?
Oberärztliche Entscheidung seitens der operativen Abteilung sowie der Anästhesiologie wurde von dem zuständigen Weiterbildungsassistenten der Anästhesie eingefordert.
Was war besonders ungünstig?
Der Patient wurde in erster Situationsbewertung gegen seinen Willen operiert.
Eigener Ratschlag (take-home-message):
Der Patient wurde operiert, der Patientenwille stand hier im Widerspruch zur operativen Indikation. Wie belastbar ist in dieser Situation die Äußerung des Patienten? Wie ist der Patientenwille zu bewerten? Wie belastbar ist die Notfallindikation der operativen Abteilung? Was passiert, wenn die anästhesiologische Abteilung bzgl. der Notfallindikation anderer Meinung ist als die Chirurgie?
Wie häufig tritt ein Ereignis dieser Art in Ihrer Abteilung auf?
selten
Wer berichtet?
Arzt / Ärztin
Berufserfahrung:
bis 5 Jahre
Die Analyse aus Sicht des Juristen
Die Falldarstellung lässt das tatsächliche Geschehen im Zusammenhang mit einigen Sachverhaltsaspekten offen. Dies dürfte – wie die darin abschließend aufgeworfenen Fragen zeigen – einer Unsicherheit bzw. Unkenntnis bezüglich der ersichtlich werdenden Problemstellungen des Falles bzw. deren (rechts-) systematischer Einordnung geschuldet sein. Das betrifft, was differenziert werden muss, zum einen den Aspekt einer Behandlung lege artis (also mit „Facharztqualität“; vgl. auch § 630a Abs.2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)) und zum anderen den Aspekt der Patienteneinwilligung in eine indizierte Behandlung bzw. deren Ablehnung (vgl. §§ 630d f. BGB). Darüber hinaus entwickelte sich der stattgehabte Behandlungsgang offensichtlich auf der Grundlage gewisser Organisationsdefizite.
1. Behandlung samt Indikationsstellung(en)
a) Offenbar erfolgte nach Aufnahme des Patienten die chirurgische Indikationsstellung zur operativen Frakturbehandlung, da seine Vorstellung zur anästhesiologischen Prämedikation veranlasst wurde. Unbekannt ist die Dauer des Zeitraums zwischen der Zuverlegung des Patienten und seiner initialen anästhesiologischen Behandlung.
Laut Fallbericht hat der Anästhesist anlässlich bzw. aufgrund des Prämedikationstermins eine operative Behandlung „abgelehnt“, wobei offen bleiben muss, ob dies angesichts des Befundbildes des Patienten (ASA IV) oder wegen dessen Ablehnung operativer Behandlung erfolgte. Zwar hat der prämedizierende Anästhesist den Vorgang dokumentiert, jedoch wurde das entsprechende „Protokoll“ laut Fallbericht erst im Zusammenhang mit der geplanten Eingriffsdurchführung 48 Stunden später „im Narkoseeinleitungsraum“ effektiv zur Kenntnis genommen.
Insofern ist jedenfalls (mangels allgemeiner Maßgaben und/oder individueller Veranlassungen seitens des Anästhesisten) ein Organisationsdefizit zu konstatieren. Denn
-
entweder bedurfte der Patient keinerlei weitergehender OP-Vorbereitungen mehr – z.B. auch keiner Verlegung in den Narkoseeinleitungsraum –, falls er seine operative Behandlung bei entsprechender Einsichtsfähigkeit wirksam abgelehnt bzw. in deren Durchführung nicht wirksam eingewilligt hat,
-
oder seitens der Anästhesie hätten im Anschluss an die Prämedikation umgehend Erörterungen mit der Chirurgie zur Weiterbehandlung des Patienten stattfinden müssen, falls es aus anästhesiologischer Sicht – zumindest aktuell – einer Operationsfähigkeit ermangelte (siehe dazu nochmals näher unten).
b) Dabei lässt der Fallbericht das stattgehabte präoperative chirurgische Behandlungsregime – jenseits der o.a. Vermutung einer Indikationsstellung zur operativen Versorgung des Patienten – völlig offen. Infolgedessen kann nur die Frage aufgeworfen werden, wieso dieser Patient angesichts der anlässlich der Prämedikation – warum auch immer – dokumentierten „Ablehnung“ operativer Behandlung 48 Stunden später für eine geplante Eingriffsdurchführung auf dem OP-Programm gestanden hat. Insofern ist weiterhin zu fragen, ob und ggf. wann seitens der Chirurgie ein Aufklärungsgespräch mit dem Patienten im Hinblick auf die beabsichtigte Eingriffsdurchführung stattfand und
- welchen Willen der Patient betreffend die ihm vorgeschlagene operative Behandlung äußerte (Einwilligung oder Ablehnung) bzw.
- ob aktuell zumindest Zweifel an der Einsichtsfähigkeit des Patienten zur wirksamen Einwilligung in die Eingriffsdurchführung oder deren Ablehnung bestanden haben/bestehen mussten.
Bei Ablehnung des Eingriffs hätte ein modifiziertes Behandlungs- bzw. Versorgungskonzept angeordnet werden müssen und der Patient hätte jedenfalls nicht zur OP-Durchführung vorgesehen werden dürfen.
Bei Zweifeln an der Einsichtsfähigkeit des Patienten wäre eine qualifizierte ärztliche Verifikation durchzuführen und erforderlichenfalls eine Betreuerbestellung zu veranlassen gewesen. Dies galt im Übrigen auch für den prämedizierenden Anästhesisten, falls ihm die dahingehende Beurteilung nicht eindeutig möglich gewesen sein sollte bzw. er eine Einsichtsunfähigkeit des Patienten festgestellt hätte. Insoweit etwa bestehenden Zweifeln hätte die (wohl bettenführende bzw. laufend unmittelbar behandelnde) chirurgische Abteilung im Übrigen bereits unmittelbar nach Aufnahme des Patienten nachgehen müssen.
c) Unbeschadet aller sachverhaltlichen Unwägbarkeiten ist auf die schließlich stattgehabte Eingriffsdurchführung wie folgt zurückzukommen:
- Sollte der Patient seine operative Behandlung – bei festzustellender Einsichtsfähigkeit – wirksam abgelehnt haben, erfolgte die Eingriffsdurchführung ohne rechtfertigende Einwilligung mit potentiell haftungs- und strafrechtlichen Konsequenzen. Bei dieser Fallkonstellation hätte auch die aktuelle Feststellung einer „Notfallindikation“ als solche keinen Rechtfertigungsgrund für die Eingriffsdurchführung geliefert. Immerhin war der entgegenstehende Wille des Patienten doch bekannt.
Insofern leuchtet im Übrigen auch nicht ein, dass der Patient offenbar op-programmgemäß im Narkoseeinleitungsraum zur operativen Behandlung anstand und gleichwohl (erst) eine Notfallindikation gestellt wurde, nachdem anhand des Prämedikations-„Protokolls“ eine – wie auch immer begründete – „Ablehnung“ der Eingriffsdurchführung ersichtlich wurde.
- War die seitens der Anästhesie anlässlich der Prämedikation dokumentierte „Ablehnung“ der Operation medizinisch begründet, implizierte diese also aus anästhesiologischer Sicht „Bedenken gegen den Eingriff oder seine Durchführung zu dem vorgesehenen Zeitpunkt“, hätte sich das weitere Procedere insbesondere nach Maßgaben der Vereinbarung des BDA und des BDC zur „Zusammenarbeit bei der operativen Patientenversorgung“ gestalten müssen [1]. Die Bedenken hätten seitens der Anästhesie den Chirurgen bereits „umgehend“ nach Feststellung der begründenden Umstände, also im Anschluss an die 48 Stunden vorgängige Prämedikation, mitgeteilt werden müssen [2]. In diesem Zusammenhang gilt Folgendes:
Gemäß vorbezeichneter Vereinbarung entscheidet der Chirurg über die „Indikation zum Eingriff sowie über Art und Zeitpunkt der Operation“. Bestehen seitens des Anästhesisten insoweit Bedenken, hat er diese umgehend geltend zu machen. In diesem Fall obliegt „die Entscheidung, ob der Eingriff dennoch durchgeführt werden muss oder aufgeschoben werden kann“, dem Chirurgen. Allerdings übernimmt er damit, wenn er sich entgegen den Bedenken des Anästhesisten für den Eingriff entschließt, die ärztliche und rechtliche Verantwortung für die richtige Abwägung der indizierenden Faktoren und der ihm vom Anästhesisten mitgeteilten Bedenken. Ggf. hat der Anästhesist bei der Wahl und Durchführung des Anästhesieverfahrens dem erhöhten Risiko und Schwierigkeitsgrad Rechnung zu tragen [3].
2. Die Einwilligungsproblematik
Im Ausgangspunkt ist zu berücksichtigen, dass die Gegebenheit einer medizinischen Indikation eine zwar notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung zur rechtlich zulässigen Durchführung (beispielsweise) einer operativen Behandlung darstellt. Letztliche „Legitimation“ erhält jeder ärztliche Eingriff erst durch das „Einverständnis des aufgeklärten Kranken“ [4] (vgl. § 630d BGB). Insofern sei angemerkt, dass eine substantielle Aufklärung des Patienten gem. § 630e BGB im Fallbericht keinerlei Erwähnung findet. So könnte einerseits hinterfragt werden, ob der Patient auf eine Aufklärung gem. § 630e Abs. 3 BGB verzichtet hat. Andererseits steht allerdings durchaus auch in Rede, dass eine Ablehnung der Eingriffsdurchführung durch den Patienten mangels gehöriger Aufklärung unwirksam war.
Hat der Patient in seine operative Behandlung vorliegend wirksam nicht eingewilligt bzw. diese abgelehnt, durfte sie keine Durchführung finden (siehe dazu bereits oben).
War der Patient tatsächlich nicht einsichtsfähig und daraus resultierend nicht einwilligungsfähig, wäre seine OP-Ablehnung als solche per se irrelevant gewesen, vielmehr hätte (bei wohl fehlender Patientenverfügung/Vorsorgevollmacht) die Bestellung eines Betreuers Veranlassung finden müssen, damit dieser – nach entsprechender Aufklärung – in Vertretung des Patienten in die Eingriffsdurchführung hätte einwilligen oder diese ablehnen können (vgl. § 630d Abs. 1 S. 2 BGB).
Nun verhielt es sich zum Eingriffszeitpunkt hier offensichtlich so, dass jedenfalls kein Betreuer bestellt war. Damit war dann – sozusagen „im Einleitungsraum“ – allerdings auch der „letzte Zeitpunkt“ erreicht, zu welchem entschieden werden musste, ob der Patient – eventuell laut Prämedikations-„Protokoll“ – eine Eingriffsdurchführung wirksam abgelehnt hatte, anderenfalls die Bestellung eines Betreuers abgewartet werden konnte oder nunmehr gemäß mutmaßlichem Willen des Patienten zu agieren war. Für die Ermittlung eines mutmaßlichen Willens wäre u.a. neben der Tatsache bereits früherer Ablehnung einer eventuell vergleichbaren operativen Behandlung auch die jüngst geäußerte Ablehnung zu berücksichtigen gewesen.
Dass in der schließlichen Entscheidungssituation „nun“ seitens der Chirurgie eine „Notfallindikation“ gestellt wurde, rechtfertigte per se aus bereits dargelegten Gründen gerade nicht die Eingriffsdurchführung.
3. Die vorangehenden Ausführungen stellen sich auf der Grundlage vorliegender Falldarstellung unter verschiedenen Aspekten notwendigerweise hypothetisch dar. Infolgedessen ist der Fall im Eigentlichen sogar besonders lehrreich, da er umso mehr die Umstände, welche im Hinblick auf den Willen des Patienten bezüglich seiner Behandlung sowie das präoperative Zusammenwirken von Chirurgie und Anästhesie zu berücksichtigen sind/gewesen wären, markiert.
Ungeachtet eines zu unterstellenden Operationserfolgs bleibt letztlich offen, ob die Durchführung des Eingriffs mit vermeidbaren medizinischen Risiken einhergegangen ist und ob sie dem tatsächlichen Willen des Patienten entsprochen hat. Damit findet laut Fallbericht Beleg, dass sich die Prozessqualität des stattgehabten Behandlungsregimes von der Aufnahme des Patienten bis zur Operationsdurchführung mangelhaft darstellt. Dies betrifft zum einen jeweils per se das Aufklärungsmanagement sowie die Koordination und Kooperation von Chirurgie und Anästhesie im Rahmen horizontaler Arbeitsteilung und zum anderen zudem beide Organisationskomplexe in einer Verquickung. Die schließlich komplikative Entscheidungsfindungssituation „im Einleitungsraum“ hätte vermieden werden können, wenn - im Ausgangspunkt seitens der Chirurgie – ab Aufnahme des Patienten und im Weiteren im Zusammenwirken von Anästhesie und Chirurgie zum einen der persönlichen Einwilligungsfähigkeit des Patienten und zum anderen seiner Operationsfähigkeit zeitgerecht nachgegangen und erforderlichenfalls entsprechende Veranlassungen getroffen worden wären. Die Sicherstellung dahingehend adäquater Prozessqualität erfordert organisatorische Maßgaben – z.B. auch unter Implementierung der o.a. „Vereinbarung“ – im Zusammenspiel mit der Kenntnis aller Beteiligten von den insoweit zugrundeliegenden (insbesondere) rechtlichen Anforderungen.
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Die perioperative Koordination und Kooperation beteiligter Fachgebiete im Rahmen horizontaler Arbeitsteilung bedarf einer strukturierten Organisation. Dazu gehört insbesondere auch eine Implementierung von entsprechenden Berufsverbändevereinbarungen.
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Im Rahmen des Behandlungsregimes bedarf der Aspekt erforderlicher Aufklärung und Einwilligung des Patienten in einzelne Maßnahmen laufender Berücksichtigung. Dies beginnt bereits unmittelbar zum Zeitpunkt der Patientenaufnahme, damit erforderlichenfalls gebotene Veranlassungen getroffen werden können (z.B. Vorlage einer Patientenverfügung, Betreuerbestellung).
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Weiterführende Literatur:
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[1] Anästh. Intensivmed 2016; 57:213-215
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[2] Vereinbarung, a.a.O.
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[3] Vereinbarung a.a.O., dazu Bock in: Ulsenheimer/Gaede, Arztstrafrecht in der Praxis, 6. Aufl. 2020, Rd-Nr. 215 ff (230).
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[4] Laufs, A., in: Laufs, Katzenmeier, Lipp, Arztrecht, 6. Auflage 2009, Kapitel I, Rd-Nr. 42.
Autoren:
Rechtsanwalt R.-W. Bock, Ulsenheimer - Friederich Rechtsanwälte, Berlin
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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