CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Arterielle Fehlpunktion bei ZVK-Anlage ist postoperativ mit Mediainfarkt und Hemiparese assoziiert
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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Arterielle Fehlpunktion bei ZVK-Anlage ist postoperativ mit Mediainfarkt und Hemiparese assoziiert
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten:
Krankenhaus - Einleitung
Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag
Versorgungsart:
Routinebetrieb
ASA-Klassifizierung:
ASA III
Patientenzustand:
Älterer Patient, der für seine viszeralchirurgische Operation das folgende Anästhesieverfahren erhält: ITN, Arterie. PDK und High-Flow-ZVK
Wichtige Begleitumstände:
Kachexie (40 kg), Exsikkose, kollaptische Vv.jug.interna bds.
Fallbeschreibung:
Es kam zu einer schwierigen, sonographisch gesteuerten Punktion der V. jug. interna rechts, widerstandsloses Vorschieben des Führungsdrahtes, sonographische Lagekontrolle des Führungsdrahtes in der Vene, Dilatieren, Vorschieben des Katheters, Rückfluss hellroten Blutes über alle drei Lumen mit Pulsation, sofortiges Entfernen des Katheters und Druck auf die Punktionsstelle für insgesamt 20 Minuten unter regelmäßiger Blutungskontrolle. Es kam zu einem Sistieren der Blutung.
Anschließend wurde die geplante Operation durchgeführt. Bei mehrfacher Nachrelaxierung auf Anordnung des Operateurs wurde der Patient nachbeatmet auf die Intensivstation verlegt. Die Extubation erfolgte erst einige Stunden später. Im Anschluss fiel eine Hemiparese links auf, ein Notfall-CT zeigte eine Carotisdissektion rechts und Mediainfarkt rechts. Es erfolgte eine Verlegung in ein neurovaskuläres Zentrum zur weiteren Versorgung.
Was war besonders gut?
- Die Katheterfehllage wurde sofort bemerkt und es war ausreichend Manpower vorhanden
Was war besonders ungünstig?
- Arterielle Fehlpunktion, Nachbeatmung wg. Relaxansüberhang und damit verzögerte Detektion der neu-aufgetretenen Hemiparese
Wo sehen Sie die Gründe für dieses Ereignis und wie hätte es vermieden werden können?
Exsikkose -> konsequenterer Ersatz der Volumenverluste die durch die präoperativen Abführmaßnahmen bei viszeralchirurgischen Patienten entstehen
Wie häufig tritt dieses Ereignis ungefähr auf?
erstmalig
Wer berichtet?
Arzt / Ärztin, Psychotherapeut/in
Die Analyse aus Sicht des Anästhesisten
Arterielle Fehlpunktionen bei der Anlage zentralvenöser Zugänge sind wahrscheinlich die häufigsten akuten Komplikationen. Durch die Anwendung von Ultraschall sind sie zwar seltener geworden, aber eben weiterhin nicht ausgeschlossen. In dem Fall wurde die Fehlpunktion erst nach Einführen des großlumigen Katheters bemerkt. Er wurde entfernt und das Punktionsareal 20 min komprimiert. Postoperativ wurde bei dem Patienten ein Schlaganfall diagnostiziert.
Die Verwendung von Ultraschall bei einer zentralvenösen Punktion ist zwar noch nicht vorgeschrieben, setzt sich aber im klinischen Alltag allmählich durch. In dem Fall wurde die arterielle Fehlpunktion nicht erkannt und auch die Position des Drahts falsch gedeutet. Zwei Fragen drängen sich deshalb auf:
- Wurde die Nadel bei der Punktion in-plane (empfohlen) oder out-of-plane visualisiert?
- Wurde die Gefäßdopplerfunktion des Ultraschallgeräts vor der Punktion und bei der Visualisierung des Drahts nach der Punktion verwendet?
Beide Aspekte hätten die Fehlpunktion bzw. das Einbringen des Katheters sicherer gemacht. Auf Grund der Meldung sollte daher in der Abteilung über entsprechende Schulungs- und Fortbildungsmaßnahmen nachgedacht werden.
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Entfernung eines großlumigen Katheters aus einer Arterie
Aus zahlreichen Fallberichten und Fallserien ist bekannt, dass das einfache Entfernen eines großlumigen arteriellen Katheters mit einer hohen Komplikationsrate verbunden ist. Typisch sind Hämatome mit der Gefahr der Atemwegsobstruktion, Hämatothorax, Pseudoaneurysmabildung, Bildung arterio-venöser Fisteln und Schlaganfälle. Die Autoren einer Arbeit analysierten 59 Fälle, bei denen das Entfernen beschrieben wurde [1]. Wurde die Technik Ziehen und Kompression angewendet, entwickelten im Fall der A. carotis 15 von 24 Patienten und im Fall der A. subclavia 7 von 7 Patienten schwerwiegende Komplikationen. Wurde die Entfernung hingegen nach chirurgischer Exploration durchgeführt, waren die Komplikationsraten nur 1 von 14 (A. carotis) bzw. 0 von 12 (A. subclavia).
Im deutschsprachigen Raum finden sich keine offiziellen Empfehlungen oder Richtlinien für die Vorgehensweise für die Entfernung großlumiger Katheter, die versehentlich in eine Arterie eingebracht wurden. Die American Society of Anesthesiology hingegen bezieht Stellung [2]: Den Katheter/Dilatator nicht entfernen, sondern einen Allgemeinchirurgen/Gefäßchirurgen oder einen interventionellen Radiologen kontaktieren, der das weitere Vorgehen festlegt.
Die Analyse aus Sicht des Juristen
Die anästhesiologische Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass im Hinblick auf das Entfernen des Katheters ein falsches Vorgehen gewählt wurde. Handelt es sich um einen „Behandlungsfehler“?
Die Feststellung eines Behandlungsfehlers erfordert einen Vergleich „der tatsächlich durchgeführten ärztlichen Behandlung mit den nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft zu diesem Zeitpunkt angezeigten Maßnahmen.“[3] Maßstab ist, wie auch § 630a Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) festlegt, der zum Zeitpunkt der Behandlung bestehende, allgemein anerkannte fachliche Standard. Dieser Standard in der Medizin, so schon Carstensen [4], „repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat.“ Es ist also die Kombination von wissenschaftlicher Erkenntnis, ärztlicher Erfahrung und professioneller Akzeptanz in der jeweiligen Berufsgruppe, die den „Standard“ ausmacht. Es geht letztlich um ein in medizinischer Wissenschaft und ärztlicher Praxis als im konkreten Fall erforderlich angesehenes ärztlichen Verhalten.
Dem entspricht, dass der Patient Anspruch auf eine Behandlung mit (im Ergebnis) „Facharztqualität“ bzw. „Facharztstandard“ hat. Damit ist eine Behandlung gemeint, „die ein durchschnittlich qualifizierter Arzt des jeweiligen Fachgebiets nach dem jeweiligen Stand von medizinischer Wissenschaft und Praxis an Kenntnissen, Wissen, Können und Aufmerksamkeit zu erbringen in der Lage ist.“ [5]
Unterschreitet die Versorgung des Patienten im konkreten Fall das nach „Standard“ Geforderte, kann dies, wenn er dadurch zu Schaden kommt, zu zivilrechtlicher Haftung und strafrechtlicher Verantwortlichkeit führen.
Im Idealfall bilden fachliche Verlautbarungen, Empfehlungen und insbesondere Leitlinien medizinisch - wissenschaftlicher Fachgesellschaften diesen Standard ab. Jedoch können insbesondere Inhalte von Leitlinien auch vom medizinischen Standard abweichen, z.B. veralten, weshalb der Bundesgerichtshof [6] betont hat, Leitlinien könnten nicht „unbesehen als Maßstab für den Standard übernommen werden“, sie können vor allen Dingen auch kein Sachverständigengutachten ersetzen; sie sind nicht „konstitutiv“ für einzuhaltenden Standard.
Es sind die Fachgebiete, die die innerhalb ihres Fachgebiets geltenden Standards definieren. Gerichte überprüfen nur „in einer Art einer Grenzkontrolle“, ob „die gebräuchlichen Verfahren etwa vermeidbare Risiken enthalten oder mögliche Sorgfalt außer Acht lassen“, sie verfolgen „die Grundtendenz, Ärzten im Kernbereich ihrer Tätigkeit für den Normalfall keine Verhaltensanforderungen vorzugeben“, - anders allerdings dort, wo es um organisatorische Fragen geht. [7]
Was aber gilt, wenn es keine fachlichen Verlautbarungen, insbesondere keine Leitlinien oder weiter noch, keinen „Standard“ im Fachgebiet für die konkrete Behandlungssituation gibt?
Dass es außerhalb von konkreten Empfehlungen, Leitlinien etc. der Fachgesellschaften „elementare medizinische Grundregeln“ geben kann, die zu beachten sind, hat der Bundesgerichtshof festgestellt [8]: Zur Annahme eines Behandlungsfehlers kann nicht nur ein Verstoß gegen „die Erkenntnisse, die Eingang in Leitlinien, Richtlinien oder anderweitige ausdrückliche Handlungsanweisungen gefunden haben...“, führen, sondern auch die Verletzung von „elementaren medizinischen Grundregeln, die im jeweiligen Fachgebiet vorausgesetzt werden.“ Ein Verstoß gegen bewährte Sorgfaltsregeln kann also auch dann vorliegen, wenn es für den konkreten Fall keine „klaren und feststehenden Vorgaben und Handlungsanweisungen“ gibt. [8]
Gilt zum einen: „Bei Anwendung einer Behandlungsmethode außerhalb des medizinischen Standards ist Maßstab für die erforderliche Sorgfalt ein vorsichtiger Arzt,“[9], kann zum anderen nichts anderes gelten, wenn sich noch kein medizinischer Standard herausgebildet hat.
Wie hätte sich ein vorsichtiger Arzt in der konkreten Situation beim Ziehen des Katheters verhalten? War von ihm zu erwarten, dass er die amerikanischen Leitlinien und die zitierte Studie kannte und welche Konsequenzen hätte er im konkreten Fall daraus ziehen müssen? Wie gesichert müssen die Erkenntnisse sein vor dem Hintergrund welcher dem Patienten drohenden Risiken?
Da Dynamik ein Wesensmerkmal des Standards ist, verlangt die Gewährleistung der zum Zeitpunkt der Behandlung geltenden Standards respektive der grundlegenden Sorgfaltsregeln lebenslange Fortbildung im Fachgebiet. Gehört die Lektüre ausländischer Empfehlungen und Leitlinien zum Inhalt der Fortbildung? Der Bundesgerichtshof hat in einem älteren Urteil[10] von einem Allgemeinmediziner nicht die Lektüre ausländischer Fachzeitschriften verlangt: „Aber auch von einem Arzt verlangt die Rechtsprechung nicht in jedem Fall, dass er alle medizinischen Veröffentlichungen alsbald kennt und beachtet … gefordert wird nur das regelmäßige Lesen einschlägiger Fachzeitschriften auf dem entsprechenden Gebiet (z.B. von Fachärzten nicht die Lektüre medizinischer Spezialliteratur eines anderen Fachgebietes; von Ärzten, die sich mit der Behandlung einer bestimmten Krankheit, z.B. Tuberkulose, befassen, aber auch die Lektüre von Zeitschriften, welche über die medikamentöse Behandlung dieser Krankheit und deren Risiken berichten… von Allgemeinmedizinern aber zum Beispiel nicht die Lektüre von ausländischen Fachzeitschriften…“
Ob und inwieweit dies auch für Fachgebiete wie die Anästhesiologie gilt, die international publizieren, und ob zwischen Häusern der Maximalversorgung und solchen der Regelversorgung zu unterscheiden ist, hatte die Rechtsprechung bislang, soweit ersichtlich, noch nicht zu entscheiden. Insofern kann die Frage, ob und inwieweit ausländische Erkenntnisse und Hinweise in einer Studie (mit überschaubarer Fallzahl) im vorliegenden Fall das Erfordernis begründen können, einen Gefäßchirurgen oder einen interventionellen Radiologen hinzuzuziehen, sachverständig nur vom Fachgebiet, nicht aber vom Juristen beantwortet werden.
Abschließend darf noch darauf hingewiesen werden, dass dann, wenn sich „in führenden Fachzeitschriften publizierte neue Erkenntnisse“ zeigen, diese, sofern sie „wissenschaftlich gesichert sind,“ im Rahmen der erforderlichen Fortbildung zeitnah zur Kenntnis zu nehmen und in geeigneten Fällen vor Ort umzusetzen sind, so das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz [11] im Zusammenhang mit der PONV-Prophylaxe. Im konkreten Fall war eine Frist zwischen Publikation und Behandlung von etwas mehr als einem halben Jahr als zu lang und damit behandlungsfehlerhaft bewertet worden.
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Die Verwendung von Ultraschall reduziert Fehlpunktionen bei ZVK-Anlagen. Zur Identifikation des Gefäßtyps empfiehlt sich die Anwendung der Dopplerfunktion vor der Punktion und nach Einbringen des Seldinger-Drahts.
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Wird versehentlich ein arterielles Gefäß punktiert und ein großlumiger Katheter eingebracht, sollte vor der Entfernung ein Allgemeinchirurg/Gefäßchirurg oder ein interventioneller Radiologen konsilarisch hinzugezogen werden, um mögliche schwerwiegende Komplikationen zu vermeiden.
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Die anästhesiologische Versorgung hat den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten Standards zu genügen.
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In führenden Fachzeitschriften wiedergegebene wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse hat der Anästhesist zu berücksichtigen, Maßstab ist stets die Sorgfalt eines vorsichtigen Arztes.
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Weiterführende Literatur:
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[1] Guilbert M-C, et al. Arterial trauma during central venous catheter insertion: Case series, review and proposed algorithm. J Vasc Surg 2008; 48: 918-25. https://doi.org/10.1016/j.jvs.2008.04.046
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[2] Practice Guidelines for Central Venous Access 2020: An Updated Report by the American Society of Anesthesiologists Task Force on Central Venous Access. Anesthesiology 2020; 132: 8-43. https://doi.org/10.1097/ALN.0000000000002864
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[3] Katzenmeier in Laufs/Katzenmeier/Lipp Arztrecht 8. Aufl. Kap. X RN 5.
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[4] Deutsches Ärzteblatt 1989, A - 2431.
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[5] Schreiber Langenbecks Arch Chir 364 (1984), 295.
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[6] BGH VersR 2014, 879.
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[7] Katzenmeier in Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 8. Aufl. 2021, Kap. X Rn. 16 mit weiteren Nachweisen.
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[8] BGH, Urt. v. 20.9.2011, Az. VI ZR 55 / 09
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[9] BGH, Urt. v. 22.5.2007, Az. VI ZR 35/06.
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[10] BGH, Urt.v.29.01.1991, VI ZR 206/90.
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[11] Urt. v. 20.6.2012, Az. 5 U 1450 / 11.
Autoren:
Prof. Dr. med. M. Hübler, Krankenhaus St.-Joseph-Stift, Dresden
Rechtsanwalt R.-W. Bock, Kanzlei Ulsenheimer-Friederich, Berlin
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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