Fall des Monats Quartal 1/2022 |
05.05.2022 |
CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und LernenIntraorale Verdrehung eines Endotrachealtubus als seltene Ursache eines akuten BeatmungsproblemsDownload Fall des Monats Quartal 1-2022 als PDF Dokument Der Fall:(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Intraorale Verdrehung eines Endotrachealtubus als seltene Ursache eines akuten Beatmungsproblems
Zuständiges Fachgebiet:AnästhesiologieWo ist das Ereignis eingetreten:Krankenhaus - OPFallbeschreibung:
Im Rahmen einer Intubationsnarkose kam es zu Beatmungsproblemen mit hohem inspiratorischem Druck und sehr kleinen Atemzugvolumina. Im weiteren Verlauf verfiel der Kreislauf; dies konnte durch Flüssigkeitsersatz und Noradrenalininfusion kontrolliert werden. Da während der Narkoseeinleitung in Ermangelung anderer Zugangswege eine Vena subclavia-Punktion stattgefunden hatte, wurde radiologisch und sonografisch ein Pneumothorax ausgeschlossen.
Was war besonders gut?Durch visuelle und manuelle Lagekontrolle wurde das Problem detektiert und durch Detorquierung behoben.Wo sehen Sie die Gründe für dieses Ereignis und wie hätte es vermieden werden können?Ursächlich war letztlich die intraorale Torquierung des Endotrachealtubus, welche sich offenbar beim Umlagern des Tubus vom rechten in den linken Mundwinkel ereignet hatte. Es muss zu einer langsam zunehmenden Torquierung gekommen sein. Es handelte sich nicht um ein perakutes Ereignis.Im Nachgang wurde der Fall ausgiebig besprochen und analysiert. Zur Vermeidung einer Wiederholung wurde die regelhafte Nutzung der "Notfall Checklisten Anästhesie unter Verwendung des Emergency Quick Reference Guide der ESA" eingeführt. Welche Faktoren trugen zu dem Ereignis bei?Ausbildung und TrainingOrganisation (zu wenig Personal, Standards, Arbeitsbelastung, Abläufe etc.) Wie häufig tritt dieses Ereignis ungefähr auf?erstmaligWer berichtet?Arzt / Ärztin, Psychotherapeut/inDie Analyse aus Sicht des AnästhesistenDieser medizinisch interessante Fall beschreibt ein Problem, welches wahrscheinlich häufiger als gedacht auftritt. Eine grobe Suche in der CIRS-AINS-Datenbank liefert 6 Treffer, in denen von abgeknickten Endotrachealtuben berichtet wird. Der Autor kann sich persönlich an 4 Fälle erinnern. Typisch ist, dass während einer laufenden Anästhesie hohe Inspirationsdrücke erforderlich werden, um einen Patienten ausreichend zu ventilieren. Der Anstieg der Drücke kann sich langsam über eine gewisse Zeit entwickeln oder aber auch relativ plötzlich auftreten.Technische AspekteAm häufigsten werden in der Anästhesie vorgeformte Polyvenylchlorid (PVC)-Endotrachealtuben verwendet. PVC zeichnet sich dadurch aus, dass es bei Erwärmung weicher wird. Diese Materialeigenschaft kann z.B. bei einer nasalen Intubation ausgenutzt werden, denn ein angewärmter Tubus traumatisiert das Gewebe weniger und Epistaxis wird seltener beobachtet [1].Die Erweichung des Tubus tritt auch auf, wenn sich das PVC nach der Intubation allmählich auf Körpertemperatur erwärmt [2] oder wenn er einem konvektiven Patientenanwärmesystem ausgesetzt ist [3]. Der Tubus wird durch die Erwärmung aber nicht nur weicher, sondern auch instabiler. Eine produktionstechnisch bedingte Schwachstelle befindet sich im Bereich der Austrittsstelle der Cuffdruckleitung. Hier wird am häufigsten das Abknicken beobachtet (siehe Abbildung 1). Das tückische an dieser „Sollknickstelle“ ist, dass sie sich in der Regel enoral befindet und deshalb das Problem nicht gleich erkannt wird. Abbildung 1 (siehe PDF): Das Bild zeigt einen angewärmten Standard PVC-Tubus, welcher gegen die vorgeformte Krümmung gebogen wurde. Im Bereich der Austrittsstelle der Cuffdruckleitung kommt es zu einem Abknicken mit Verlegung des inneren Lumens. In Abbildung 2 haben wir versucht, den in der Meldung erwähnten Mechanismus nachzustellen. Es gelingt zwar durch eine reine Torquierung des Tubus das Lumen zu okkludieren, aber wir halten diesen Mechanismus als alleinige Ursache für eher unwahrscheinlich. Für eine vollständige Okklusion ist eine Torquierung um fast 360o erforderlich. Der hierfür erforderliche Kraftaufwand und die resultierenden Spannungskräfte sind relativ groß. Die distale Fixierung des Tubusendes in der Trachea durch den Cuff wird ein Mitdrehen des Tubus (De-Torquierung) kaum verhindern. Als Co-Faktor kann eine Verdrehung allerdings durchaus relevant sein, denn bereits eine geringe Torquierung bewirkt eine Abnahme der Stabilität und ein Abknicken wird erleichtert. Abbildung 2 (siehe PDF): Das Torquieren eines angewärmten PVC-Tubus führt ebenfalls zu einer Instabilität (siehe Pfeil) und kann ein Abknicken begünstigen. Auch hier liegt die beginnende Verformung des Tubus im Bereich der Austrittsstelle der Cuffdruckleitung. Die Temperaturabhängigkeit der PVC-Stabilität erklärt, warum das Problem typischerweise mit einer gewissen zeitlichen Latenz nach der Intubation auftritt. Verhindern lässt es sich, indem sowohl bei der initialen Fixierung nach der Intubation als auch nach allen Lagerungsmaßnahmen überprüft wird, ob der Tubus regelrecht platziert wurde bzw. sich noch in der regelrechten Position befindet. Fast alle Endotrachealtuben sind mit einer Markierung versehen, die entlang der äußeren Krümmung des Tubus verläuft und der Austrittstelle der Cuffdruckleitung gegenüber liegt. (Auf den abgebildeten Endotrachealtuben ist es eine blaue Linie.) Diese Markierung muss nach der Fixierung des Endotrachealtubus nach nasal zeigen, um ein enorales Abknicken zu verhindern. Zusätzlich muss darauf geachtet werden, dass nach der Konnektion des Tubus mit den Beatmungsschläuchen keine Spannung auf dessen vorgeformte, konvexe Krümmung ausgeübt wird. In der Meldung werden kleine Tidalvolumina mit hohen Beatmungsdrücken erwähnt. Bei der Ursachensuche muss dabei auch ein gerätetechnischer Aspekt beachtet werden: Ältere Anästhesiegeräte verfügen nur über einen exspiratorischen Flowsensor und messen entsprechend nur das Ausatmungsvolumen. Moderne Anästhesiegeräte hingegen verfügen über 2 Flowsensoren, die das Inspirations- und das Exspirationsvolumen separat messen. (Der inspiratorische Flowsensor ist eine Voraussetzung für flow-getriggerte synchronisierte Beatmung.) Angezeigt wird auf dem Display in der Regel nur exspiratorisch gemessene Volumina. Bei älteren Anästhesiegeräten kann deshalb eine Diskrepanz zwischen in- und exspiratorischen Atemzugvolumina unerkannt bleiben. Bei modernen Geräten wird eine Leckage angezeigt. Die in der Meldung erwähnten kleinen Tidalvolumina beziehen sich wegen der erwähnten Geräteeigenschaften wahrscheinlich auf die Exspiration. Es ist nun zum einen möglich, dass sowohl das in- als auch das exspiratorische Volumen niedrig waren, andererseits kann auch nur die Exspiration betroffen gewesen sein. Diese war evtl. unvollständig und Air-Trapping die Folge. Aus eigener Erfahrung können wir ein weiteres Symptom hinzufügen: Ein durch Abknicken teilokkludierter Tubus verändert die CO2-Kurve so, dass ihre Form an einen schweren Bronchospasmus denken lässt. Die sich entwickelnde Hyperkapnie in Kombination mit der intrathorakalen Druckerhöhung führen schließlich zu einer Kreislaufinstabilität. Der Faktor MenschIn dem Fall verging einige Zeit, bis der abgeknickte Tubus als Ursache für die Ventilations- und Kreislaufprobleme gefunden wurde. Die Arbeitshypothese der betroffenen Kollegen lautete „Spannungspneumothorax nach Anlage eines ZVK in die V. subclavia“. Die Entscheidung ist nachvollziehbar, da die Symptomatik sehr ähnlich sein kann. Es folgten mehrere Untersuchungen, die die Hypothese letztendlich nicht bestätigten, aber es ging wertvolle Zeit verloren, bis nach weiteren Ursachen gesucht wurde. Wie können wir einen solchen Zeitverlust vermeiden?In schwierigen und/oder zeitkritischen Situationen greifen wir gerne auf bekannte Beispiele zurück, um vermeintlich richtige Entscheidungen zu treffen. Kognitionspsychologen nennen ein solches Vorgehen die Nutzung einer Verfügbarkeitsheuristik: Heuristiken helfen, unter Zeitdruck mit begrenztem Wissen zu wahrscheinlichen Aussagen zu kommen. Die Beispiele, auf die wir zurückgreifen, können typisch oder häufig sein, aber oft waren sie einfach nur spektakulär und haben deswegen tiefere Spuren in unserem Gedächtnis hinterlassen. Heuristiken sind wichtig, denn wir bleiben handlungsfähig und oft genug liegen wir mit unserer Initialdiagnose auch richtig. Die Gefahr ihrer Nutzung ist aber, dass wir nicht mehr alle vorhandenen Informationen wahrnehmen, einen Tunnelblick entwickeln und den eingeschlagenen Weg evtl. zu spät (oder überhaupt nicht) korrigieren. In dem meldenden Krankenhaus wurde der Fall aufgearbeitet und eine Möglichkeit aufgezeigt, wie wir uns von unseren Heuristiken lösen können: Checklisten helfen, systematisch nach Fehlerquellen oder Ursachen zu suchen. Ihre Verwendung ist für uns gewöhnungsbedürftig, da wir gelernt haben, komplexe Fragestellungen auch ohne Gedächtnisstütze zu klären. Checklisten reduzieren aber nachweislich den Einfluss unserer subjektiven Wahrnehmung und Urteilsfindung und helfen so, nicht etwas Wichtiges zu übersehen oder zu vergessen. In dem in der Meldung erwähnten Emergency Quick Reference Guide der ESA [4] behandelt der Abschnitt 13 das Problem „erhöhter Beatmungsdruck“. Es werden die möglichen Differentialdiagnosen aufgeführt, aber entscheidend sind die Maßnahmen, die empfohlen werden: An erster Stelle steht die Auskultation, gefolgt von manueller Beatmung und endobronchialem Absaugen. Das Problem wäre so wahrscheinlich innerhalb von 1-2 min erkannt worden. Eine Alternative zu dem Emergency Quick Reference Guide der ESA stellt die von der DGAI kostenlos zu Verfügung gestellte eGENA-App (elektronische Gedächtnis- und Entscheindungshilfe für Notfälle in der Anästhesiologie) dar (https://egena-app.de/). Sie kann sowohl auf mobilen Endgeräten [5] als auch über einen Browser genutzt werden [6]. Weiterführende Literatur:
Autoren:
Prof. Dr. med. M. Hübler, Krankenhaus St.-Joseph-Stift, Dresden
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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