CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Keine klare Vereinbarung im Haus, welche Patienten (Gruppen) versorgt werden können
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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Keine klare Vereinbarung im Haus, welche Patienten (Gruppen) versorgt werden können
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten:
Krankenhaus - Notfallaufnahme
Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag
Versorgungsart:
Notfall
ASA-Klassifizierung:
ASA II
Patientenzustand:
Kleinkind (<1 J) mit Verbrühungen an Händen und Kopf
Fallbeschreibung:
Der Patient wurde von der plastischen Chirurgie der Anästhesie gemeldet. Diese äußerten Zweifel, die Versorgung im Haus gewährleisten zu können. Trotzdem wurde entgegen dieser Zweifel der Patient übernommen.
Bei Ankunft in der ZNA war schnell klar, dass eine Wundversorgung unter Narkose oder Sedierung notwendig werden wird. Schlußendlich wurde diese dann in der ZNA durch den OA der ZNA durchgeführt. Nach einer Überwachung wurde der Patient auf Normalstation verlegt.
Was war besonders gut?
Patientenorientierte Lösung, in der Situation vermutlich ausreichend sichere Lösung, den Eingriff in der ZNA durchzuführen.
Was war besonders ungünstig?
Eine Kommunikation im Vorfeld der Übernahme erfolgte wohl nicht mit allen Beteiligten. Unkollegiale Übernahme ohne Not trotz Bedenken einer unmittelbar beteiligten Abteilung. Sedierung/Narkose im Außenbereich bei einer Hochrisikopatientengruppe. Keine klare Vereinbarung im Haus, welche Patienten (Gruppen) versorgt werden können.
Eigener Ratschlag (Take-Home-Message):
- Klare Kommunikationswege vor einer (so wie in diesem Fall auch noch planbaren) Übernahme unter Beteiligung und Anhörung aller Fachbereiche.
- Keine Übernahme bei Bedenken oder gegen den Widerstand unmittelbar beteiligter Abteilungen.
- Schriftliche Übereinkunft, was wann und unter welchen Umständen übernommen wird, hier zum Beispiel im Hinblick auf Kinder.
- Besinnung auf eine umfänglich sichere Versorgung auch dann, wenn dann nicht alles was geht möglich gemacht werden würde.
Wie häufig tritt ein Ereignis dieser Art in Ihrer Abteilung auf?
mehrmals pro Jahr
Berufserfahrung:
über 5 Jahre
Die Analyse aus Sicht des Anästhesisten
In dem Fall wird berichtet, dass die Anästhesie vor der Übernahme durch die plastische Chirurgie über das Kind informiert wurde und ihre Zweifel geäußert hatte, die Versorgung des Kindes gewährleisten zu können. Der genaue Grund dafür wird nicht genannt. Bestand eine generelle Unsicherheit der diensthabenden Anästhesisten in Bezug auf die Versorgung kleiner Kinder? Auch wenn die Durchführung von Kinderanästhesien Teil des Katalogs zur Erlangung des Facharztes für Anästhesiologie ist, haben viele Anästhesisten nicht ausreichend Erfahrung Kleinkinder sicher zu betreuen. Hinzu kommt, dass erfahrungsgemäß die emotionale Beteiligung größer ist und so die Unsicherheit erhöht wird. Seit vielen Jahren wird die Einführung einer Spezialisierung z.B. durch eine Zusatzbezeichnung "Spezielle Kinderanästhesie" diskutiert. Aus verschiedenen Gründen wurde sie jedoch nicht etabliert.
Nach unserem Kenntnisstand kam die Meldung aus einem Haus der Maximalversorgung. Bei einem solchen Haus gehört die Behandlung von (kleineren) Kindern zum Versorgungsauftrag. In einem Haus der Maximalversorgung besteht das Dienst-Team oft aus mehreren Anästhesisten verschiedener Ausbildungsstufen. Neben einem Facharzt für Anästhesie ist meist auch ein Oberarzt entweder in der Klinik anwesend oder befindet sich in Rufbereitschaft. Trotz der augenscheinlichen Qualifikation (Facharzt für Anästhesie) ist die individuelle Qualifikation und Sicherheit in der Versorgung kleiner Kinder sehr von der regelmäßigen Betreuung solcher Patienten (innerhalb eines kinderchirurgischen OPs, in der HNO, etc.) abhängig. Inwieweit das auf die diensthabenden Anästhesisten zutraf, kann nur spekuliert werden. Möglicherweise stufte der verantwortliche anästhesiologische Dienstarzt das Kind als (Hoch-)Risikokind ein, da es Verbrühungen an Kopf und Händen hatte. Hier wäre ggf. eine Versorgung/Verlegung in ein Kinder-Brandverletztenzentrum vorzuziehen, je nachdem wie umfänglich die Verbrühungen waren und wie weit das nächste Zentrum entfernt gewesen wäre [1]. Ebenfalls unerwähnt ist, ob die aktuelle Situation (bereits laufende oder angemeldete Notfälle) eine Rolle bei dem verkündeten Versorgungsengpass der Anästhesie eine Rolle spielte.
Die Lösung des Problems lag in diesem Fall darin, dass der diensthabende Oberarzt der ZNA das Kind in der Notaufnahme sedierte und dieses dort dann bis zur Verlegung überwacht wurde. Das Vorgehen war zwar für die diensthabende Anästhesie eine vermeintlich „einfache“ Lösung und es schien laut dem Bericht alles problemlos abgelaufen zu sein, jedoch wirft dieses Vorgehen doch einige Fragen nach der Qualifikation des ZNA-Oberarztes (Facharzt für Pädiatrie oder Anästhesie?) und des Umfeldes in der ZNA auf. Es muss gewährleistet sein, dass der Oberarzt der ZNA als Durchführender der Sedierung ebenso geschult und kundig in dem Verfahren und deren Komplikationen ist, wie man es von einem Anästhesisten erwartet hätte, der diese Maßnahme durchführt. Außerdem muss man die Umstände in der ZNA kritisch für eine solche Maßnahme hinterfragen. Ist Personal vorhanden, das den Oberarzt qualifiziert genug in der Maßnahme selbst und Behandlung möglicher Komplikationen assistieren kann? Sind die baulichen Gegebenheiten (z.B. Eingriffsraum mit geeignetem Monitoring und Equipment für kleine Kinder) vorhanden und ist eine qualifizierte und ausreichend lange Überwachungsmöglichkeit nach dem Eingriff gegeben? Nur wenn alle diese Punkte erfüllt sind, sollte ein Vorgehen, wie in diesem Fall beschrieben, zur Sicherheit des Kindes gewählt werden.
Unabhängig von dem konkreten Fall möchten wir aber die Forderung des Anästhesisten unterstützen, dass eine schriftliche Vereinbarung der verschiedenen Abteilungen angebracht ist. Es sollten klare organisatorische Abläufe festgelegt werden, wer die Anmeldung eines Notfallpatienten (z.B. polytraumatisierter Patient, Risikokind) entgegennimmt und ob diese Person die Annahme des Patienten mit oder ohne Rücksprache anderer Abteilungen entscheiden darf. Grundsätzlich handelt es sich dabei auch um eine strategische Entscheidung des Hauses, ob “rund um die Uhr” auch Risikokinder versorgt werden sollen. Da die Ausbildungsplätze begrenzt sind, sind viele (große) Krankenhäuser dazu übergegangen, nur ausgewählte Kollegen zu schulen oder schulen zu lassen und die Versorgung von Risikokindern über einen speziellen Rufdienst sicherzustellen. Bei dieser Entscheidung muss aber auch mit bedacht werden, wie viel Zeit vergehen würde, bis ein betroffenes Kind in ein entsprechendes Zentrum verlegt werden kann (Transportzeit, etc.). Die Erstversorgung bis zum Eintreffen einer ausreichend qualifizierten Person oder bis zu einer evtl. nötigen Verlegung sollte auf jeden Fall in einem Haus der Maximalversorgung sichergestellt sein.
Auf jeden Fall sinnvoll in der Versorgung von Risikokindern ist eine enge Zusammenarbeit von Anästhesie und Pädiatrie. In besonderen Situationen können durch eine gemeinsame Versorgung eines Kindes die jeweiligen Expertisen (unterschiedliche Erfahrungen im Legen von Zugängen, Atemwegssicherung oder Behandlung schwerer Blutungen) gebündelt und dadurch eine verbesserte Versorgungsqualität erzielt werden, anstatt aufgrund starrer Prinzipien auf die alleinige Versorgung durch eine einzelne Abteilung zu beharren.
Die Analyse aus Sicht des Juristen
In der vorangehenden Analyse aus Sicht des Anästhesisten wurde bereits eine Reihe medizinpraktischer Zusammenhänge mit demgemäß aus der Falldarstellung ableitbaren Folgerungen ausgeführt. Auf dieser Grundlage soll es vorliegend - trotz gewisser fehlender Sachverhaltsdetails - um eine entsprechende juristische Systematisierung und Einordnung gehen.
Im Ausgangspunkt ist - bei Einbindung in das öffentlich-rechtliche Planungs- und Finanzierungssystem - der jeweilige Versorgungsauftrag einer Klinik zu berücksichtigen (als anerkannte Hochschulklinik, Plankrankenhaus oder versorgungsvertraglich). Auf dieser Grundlage bemisst sich die mehr oder minder umfängliche konkrete Leistungspflicht zur Behandlung von Patienten [2]. Mithin impliziert diese Leistungspflicht - ungeachtet darüber hinausgehender Notfallsituationen mit allgemeiner Verpflichtung zu einer adäquaten Hilfeleistung - die Vorhaltung gehöriger Struktur- und Prozessqualität, um dem Versorgungsauftrag gerecht werden zu können. Insofern besteht auch die Verpflichtung zu adäquater (initialer) Primärorganisation samt (im Weiteren kontinuierlicher) Sekundärorganisation eines Hauses.
Dazu sei ergänzend angemerkt, dass u.a. zugelassene Krankenhäuser gem. § 135a Abs. 2 Nr. 2. SGB V insbesondere verpflichtet sind, „einrichtungsintern ein Qualitätsmanagement einzuführen und weiter zu entwickeln“. Dazu gehört beispielsweise auch die Etablierung eines Risikomanagements, vermittels dessen (versteckte) Risiken im statthabenden Behandlungsmanagement eruiert und eliminiert werden können.
Im Hinblick auf das Stichwort „Versorgungsauftrag“ geht der Hinweis in der Falldarstellung, vorliegend sei „besonders ungünstig“ gewesen, dass es einer „klaren Vereinbarung im Haus, welche Patienten (Gruppen) versorgt werden können“, ermangelt habe, im Eigentlichen fehlt. Umgekehrt bedarf es vielmehr durch entsprechende Organisation der Gewährleistung, dass Patienten, die dem Versorgungsauftrag unterfallen, tatsächlich auch adäquat behandelt werden können.
Im vorliegenden Fall war in der Klinik eine adäquate Behandlung der akuten Grunderkrankung des Kleinkindes offenbar grundsätzlich gewährleistet. In Zweifel stand (aktuell) jedoch die absehbar erforderliche begleitende anästhesiologische Versorgung (Narkose oder Sedierung), was seitens „der Anästhesie“ selbst zum Ausdruck gebracht worden ist. Dahingehende Unmöglichkeit oder auch nur „Unsicherheit“ ist jedoch als Organisationsdefizit zu charakterisieren. Immerhin verfügte die Klinik über eine ZNA, für welche schon per se jederzeit damit gerechnet werden muss, dass Patienten - samt Kleinkindern - einer qualifizierten anästhesiologischen Behandlung - und auch Weiterbehandlung bzw. Überwachung - bedürfen. Dabei meint qualifizierte anästhesiologische Behandlung eine Behandlung mit Facharztqualität bzw. gemäß Facharztstandard, was nicht notwendigerweise heißt, dass ein Facharzt tätig werden muss (materielle Facharztqualität). Genau dahingehend bestand - zu vermuten - wohl ein quantitatives und/oder qualitatives personelles Defizit, sei es im Routinedienst (wegen sonstiger Beanspruchung der Anästhesie) oder im Rufdienst (als Bereitschaftsdienst auch mit binnen adäquater Zeit zur Verfügung stehendem Hintergrunddienst).
Unklar ist im gegebenen Zusammenhang die initiale Versorgung des Kindes „in der ZNA durch den OA der ZNA“. Stand eine in erforderlicher Weise qualifizierte Räumlichkeit mit entsprechender Ausstattung (OP-Bereich) nicht zur Verfügung? Welchem Fachgebiet war der tätig gewordene Oberarzt zugehörig? War dieser Oberarzt zur erforderlichen anästhesiologischen Versorgung des Kleinkindes hinreichend qualifiziert?
Nun ist die Versorgung des kleinen Patienten im Ergebnis gelungen. Anderenfalls - unter seiner Schädigung aufgrund nicht lege artis erfolgter Behandlungsmaßnahmen - stünde einerseits ein Organisationsverschulden der insoweit Organisationszuständigen und andererseits ein Übernahmeverschulden des involvierten Oberarztes mit potentiellen Haftungs- und Strafbarkeitskonsequenzen in Rede. Der Verweis auf eine „Notfall“-Situation wäre dabei - je nach Fallgestaltung - nicht notwendigerweise entlastend. Denn bei entsprechendem Versorgungsauftrag - hier auch unter Vorhaltung einer ZNA - bildet die Aufnahme von „Notfällen“ - in wohlverstandenem Sinne - in gewisser Weise „Routine“, deren adäquate Bewältigung vorausschauend jederzeit sichergestellt sein muss.
Sollte sich - bei adäquaten strukturellen Gegebenheiten unter allen o.a. Aspekten (gehörige quantitative und qualitative personelle Ausstattung der Anästhesie unter adäquater Diensteinteilung; Vorhaltung erforderlicher Räumlichkeiten mit adäquater Ausstattung) - „lediglich“ aktuell ein „Engpass“ im Hinblick auf die erforderliche Versorgung des Kleinkindes realisiert haben, hätte es - wiederum vorausschauend - Regelungen zur Bewältigung dieser Problematik bedurft (z.B. Überlastungsanzeige, Koordination mit dem Rettungsdienst zur - möglichenfalls - Inanspruchnahme einer Notfallversorgung anderenorts etc.). Dergestalt hätte sich das Eintreten einer solchen Engpass-Situation absehbar von vornherein vermeiden lassen.
Auch im vorliegenden Zusammenhang bildet „das Wohl des Patienten und seine Sicherheit“ die Maxime [3], was nicht zuletzt durch organisatorische Vorkehrungen zu gewährleisten ist. Insoweit erlauben insbesondere auch wirtschaftliche Erwägungen keinerlei Abstriche bezüglich der für die Erfüllung ihrer Leistungsverpflichtung erforderlichen Ausstattung einer Klinik (siehe [3]).
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Adäquate Struktur- und Prozessqualität, insbesondere betreffend die quantitative und qualitative personelle Ausstattung von Fachabteilungen, zur Bewältigung erforderlicher Notfallbehandlung mit Facharztqualität.
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Sicherstellung der Notfallversorgung zu jeder Uhrzeit gemäß dem Versorgungsauftrag des Krankenhauses.
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Klare Standards für den organisatorischen Ablauf der Annahme/Übernahme von (Risiko-)Patienten festlegen. Hilfreich sind hierbei Simulationen (worst-case-scenarios) mit hinterlegten Alarmierungsketten.
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Maßnahmen zur Vermeidung überraschend eintretender Engpässe bei der Patientenbehandlung, insbesondere auch bei Notfällen, jenseits erforderlicher Vorhaltemaßnahmen (personell, apparativ, räumlich) im Rahmen des Versorgungsauftrags.
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Weiterführende Literatur:
Autoren:
Dr. med. S. Rieß, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
Prof. Dr. med. M. Hübler, Krankenhaus St.-Joseph-Stift, Dresden
Rechtsanwalt R.-W. Bock, Kanzlei Ulsenheimer-Friederich, Berlin
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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