CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Management eines akzidentellen Muskelrelaxansüberhangs
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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Management eines akzidentellen Muskelrelaxansüberhangs
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten:
Krankenhaus - OP
Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag
Versorgungsart:
Routinebetrieb
ASA-Klassifizierung:
ASA I
Patientenzustand:
Stabiler, junger Patient mit Akutverletzung (Extremität in Gefahr)
Wichtige Begleitumstände:
Knappe Besetzung (wie oft)
Fallbeschreibung:
Die Auslösung des zuständigen Saalanästhesisten zur Pause erfolgte durch einen Kollegen. Der nächste Patient war ein Akutverletzter mit dringlicher OP-Indikation, der nicht prämediziert worden war.
Nach einer kurzen Prämedikation wegen der Dringlichkeit des Eingriffs erfolgte eine kurze Übergabe an die Pausenauslösung mit der Bitte um eine modifizierte RSI bei nur formal nüchternem Patienten.
Die Einleitung durch die Pausenauslösung erfolgte mit einer Überdosierung von 100 mg Rocuroium bei einem Patientengewicht von 75 kg. Im Anästhesieprotokoll wurde versehentlich 100 mg Atracurium dokumentiert.
Nach erfolgter Pausenauslösung verließ der Kollege, der wegen Personalmangel telefonierte, ohne entsprechende Übergabe den Saal und der Saalanästhesist übernahm wieder die Narkose.
Nach einer OP-Zeit von etwa 40 Minuten wurde durch Reduktion des Narkosegases die Ausleitung begonnen. Trotz niedrigen MAC konnte der Patient nicht spontanisiert werden. Nach erneuter Reevaluation der Situation (Saalanästhesist und Fachpflege, welche bei der Einleitung anwesend gewesen war) und Besprechung der Narkoseführung fiel die falsche Dokumentation auf. Hierauf erfolgte eine Fortführung der Narkose mit Gas, Anbringen eines TOF-Gerätes (0/4), Enkapsulierung mit Sugammadex und eine Rücksprache mit dem entsprechenden Kollegen.
Nach Sugammadexgabe (200 mg) war der TOF in kürzester Zeit bei 4/4 und 98% und der Patient konnte bei suffizienter Spontanatmung extubiert werden. Im Anschluss wurde mit dem Patienten ein ausführliches Gespräch geführt, in der die Situation erklärt wurde, in der Hoffnung unangenehmen Flashback und PTBS zu vermeiden. Postoperativ konnte sich der Patient nicht an eine Awareness erinnern.
Was war besonders gut?
- konstante Fachpflege im Saal
- konstruktive Evaluation
- präventives Patientengespräch
Was war besonders ungünstig?
- keine Übergabe
- Zeitdruck
- Personalmangel
Eigener Ratschlag (Take-Home-Message):
Standardverfahren einhalten
Wie häufig tritt ein Ereignis dieser Art in Ihrer Abteilung auf?
nur dieses mal
Wer berichtet?
Ärztin/Arzt
Berufserfahrung:
über 5 Jahre
Die Analyse aus Sicht des Anästhesisten
Vielen Dank für die interessante Meldung, in der zahlreiche Aspekte mit Verbesserungspotential thematisiert werden. Der Fokus liegt auf der Fehldokumentation, die durch die Pausenauslösung erfolgte. Wir würden unsere Schwerpunkte hingegen anders setzen.
Jeder Patient hat das Recht auf Bedenkzeit, wobei die Bedenkzeit bei besonderen Umständen verkürzt sein oder ganz entfallen kann (z.B. bei vitaler Bedrohung). In der Meldung wird die Dringlichkeit des Eingriffs betont. Ob hieraus allerdings abgeleitet werden darf, dass der Patient keinerlei Bedenkzeit erhält, ist immer eine Fall-zu-Fall Entscheidung und ohne genaue Kenntnisse des medizinischen Sachverhalts nicht zu beurteilen. Aufklärungen nach der Einschleusung des Patienten gelten als nicht rechtzeitig durchgeführt und können entsprechend anfechtbar sein. Zeitdruck und Personalmangel gelten nicht als rechtfertigende Gründe.
In der Meldung wird die Dosierung von Rocuronium zur RSI kritisiert. Empfohlen wird eine Dosis von 0,8-1,2 mg/kg KG. Rechnerisch ergibt sich somit eine Spannbreite von 60-90 mg. Die 100 mg liegen etwas darüber, so dass die Aussage Überdosierung richtig ist. Unserer Ansicht nach ist die Gabe von 100 mg an Stelle von 90 mg für diesen Fall allerdings von untergeordneter Bedeutung. Zu beachten ist, dass bei einer Erhöhung der üblichen Intubationsdosis (0,5-0,6 mg/kg KG) mit einer deutlichen Wirkungsverlängerung von Rocuronium zu rechnen ist. Die klinische Wirkdauer beträgt in einem solchen Fall bis zu 150 min.
Die versehentliche Dokumentation von Atracurium an Stelle von Rocuronium ist natürlich ärgerlich. Aber auch dieser Aspekt ist für uns von untergeordneter Bedeutung. Grundsätzlich ist eine RSI auch mit Atracurium möglich, falls, wie bei Rocuronium, eine erhöhte Dosis (1 mg/kg) verabreicht wird [1]. Genauso wie bei Rocuronium kommt es aber durch die Dosiserhöhung zu einer verlängerten Wirkung (TOF-Count 2 nach ca. 80 min), so dass nicht damit gerechnet werden konnte, dass in dem Fall der Patient nach der relativ kurzen OP-Dauer nicht mehr relaxiert war.
Die Gabe von Atracurium ist allerdings keine gute Wahl für eine RSI, da die häufig zu beobachtende Histaminfreisetzung abhängig von der Injektionsgeschwindigkeit ist.
Hier ist die Kritik berechtigt, denn bei jedem Personalwechsel muss eine Übergabe erfolgen. Empfohlen ist das SBAR-Konzept [2], damit eine solche Übergabe strukturiert erfolgt und der nachfolgende Anästhesist keinen Informationsverlust hat. In dem Fall kannte der Anästhesist, der die Narkose wieder übernahm, den Patienten. Das erklärt vielleicht, dass die Pausenablösung auf eine Übergabe verzichtete, darf aber keine Entschuldigung sein. Bei einer Übergabe wäre die Wahl des Medikaments und dessen Dosierung sicher thematisiert worden. Falls das Unterlassen nur den situativen Umständen anzulasten ist, empfehlen wir ein persönliches Gespräch zwischen den Beteiligten. Handelt es sich allerdings um das übliche Prozedere, ist hier die Leitungsebene gefragt, die Abläufe zu verbessern.
Anästhesisten in Deutschland sind Relaxometriemuffel, obwohl immer wieder in der Literatur und in den Empfehlungen der Fachgesellschaften darauf hingewiesen wird, dass bei jeder Anwendung von Muskelrelaxantien auch eine Relaxometrie erfolgen muss. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Intubation nicht zu früh erfolgt (vor dem Wirkungseintritt) und dass am Ende der Operation ein Relaxantienüberhang erkannt wird. Wichtig ist es, auch bei einer RSI eine Relaxometrie durchzuführen, um zum einen lang genug zu warten, bis die Wirkung des Medikaments eingetreten ist und zum anderen sicherzustellen, dass die Messung funktioniert. Neben technischen Ursachen beeinträchtigen manche Erkrankungen die Nervenleitgeschwindigkeit und -erregbarkeit und die Messung kann falsch negativ sein (z.B. Diabetes mellitus, Charcot-Marie-Tooth-Disease).
Nach einer Operationsdauer von 40 min wurde mit der Ausleitung begonnen. Erst als es nicht gelang, die Beatmung in eine Spontanatmung zu überführen, wurde über die Möglichkeit eines Relaxantienüberhangs nachgedacht. Auf Grund der bereits erwähnten verlängerten Wirkdauer nach einer Gabe von Rocuronium bzw. Atracurium in einer Dosierung, die der 4fachen ED95 entspricht, wäre aus unserer Sicht nur eine vollständige Erholung überraschend gewesen. Es kann sich um ein Wissensdefizit oder ein bloßes Vergessen gehandelt haben. Entscheidend war aber, dass ein Neuromonitoring erst verzögert durchgeführt wurde, welches den Relaxantienüberhang objektivierte.
Auf Grund der Schilderung liegt die Vermutung nahe, dass es sich um eine systemische Schwachstelle handelte und eine Relaxometrie nur „bei Bedarf“ und nicht regelhaft erfolgt. Relaxantienüberhänge sind allerdings sehr viel häufiger als gedacht und klinische Tests sehr unzuverlässig, um sie zu detektieren [3]. Weiter erhöhen sie nicht nur die Gefahr von Wachheitserlebnissen, sondern sind ein wesentlicher beitragender Faktor für kritische respiratorische Ereignisse im Aufwachraum. Entsprechend erhöht regelhaftes Monitoring die Patientensicherheit [4].
Die wesentliche Lernbotschaft dieser Meldung ist daher, die abteilungsinternen Standards anzupassen oder – falls vorhanden – deren Umsetzung sicherzustellen. Eine quantitative Relaxometrie ist billig, nicht-invasiv und wird von den Fachgesellschaften empfohlen, so dass ein zwingendes Monitoring selbstverständlich sein sollte.
Die Analyse aus Sicht des Juristen
1. Wie schon der Analyse aus Sicht des Anästhesisten zu entnehmen ist, beinhaltet der Fall eine ganze Reihe von Problemstellungen im stattgehabten Behandlungsmanagement. Dies betrifft bereits die „kurze Übergabe“ des Patienten an den Kollegen zur Pausenauslösung mit Fortsetzung der durch den zuständigen Saalanästhesisten bereits aufgenommenen anästhesiologischen Behandlung sowie den nochmaligen Personalwechsel zum Pausenende sogar „ohne entsprechende Übergabe“ des Patienten. Darüber hinaus hat offenbar die angewandte anästhesiologische Medikation objektiv fachmedizinischer Kritik zu unterliegen, was zudem noch mit einer unzutreffenden Dokumentation einhergegangen sein soll. Insofern ist offenbar auch eine absehbar „deutliche Wirkungsverlängerung“ der (angeblich) stattgehabten Medikation mit Rocuronium bei der angestrebten Überführung der Beatmung in eine Spontanbeatmung außer Betracht geblieben. Erst zur Beherrschung der daraus resultierenden Komplikation erfolgte der Einsatz einer Relaxometrie, deren „verzögerter“ Einsatz als Defizit eines zwingend durchzuführenden Monitorings gerügt wird.
Ob der Hinweis in der Falldarstellung auf eine „kurze Prämedikation“ bei dem Patienten auf einen Aufklärungs- bzw. Einwilligungsmangel verweist, muss mangels näherer Angaben hier dahingestellt bleiben („Prämedikation“ in einem engeren oder in einem weiteren Sinne?). Vorbehaltlich besonderer Gegebenheiten in Eil- und Notfällen – wie offenbar im vorliegenden Fall – ist darauf hinzuweisen, dass grundsätzlich zum einen das Aufklärungsgespräch als solches zeitgerecht erfolgen muss und zum anderen dem Patienten nachfolgend eine gehörige Bedenkzeit bezüglich einer Einwilligungserklärung einzuräumen ist (vgl. § 630e Abs. 2 Nr. 2. BGB).
2. Aus dem laut Analyse aus Sicht des Anästhesisten defizitären Behandlungsmanagement mag bei dem Patienten kein (messbarer) „Schaden“ – auch nicht als Awareness-Folgen – resultiert sein, gleichwohl unterlag er offenbar notwendigerweise „weitergehender“, verlängerter anästhesiologischer Behandlung, welche vermeidbar und – in diesem Sinne – nicht „indiziert“ war. Auch solches gilt es zu vermeiden. Beispielsweise kann die unnötige Verlängerung einer Narkose eine Körperverletzung darstellen.
3. Bei der Beurteilung des stattgehabten Behandlungsmanagements ist im Ausgangspunkt zu berücksichtigen, dass jeder Patient einen Anspruch auf Behandlung mit „Facharztqualität“ hat. D.h. nicht, dass notwendigerweise ein Arzt mit entsprechender Anerkennung tätig werden muss (materieller Facharztbegriff). Dabei betrifft diese qualitative Anforderung nicht nur die persönliche Qualifikation jedes Behandelnden, sondern auch infrastrukturelle und prozessuale Gegebenheiten, welche gerade ermöglichen müssen, dass die Behandlungsakteure auch mit erforderlicher Qualität tätig werden können. Dieser Aspekt darf allerdings nicht zu dem Fehlschluss führen, bestehende infrastrukturelle und prozessuale Defizite mit daraus resultierenden Behandlungsfehlern würden den betroffenen Behandlungsakteur ohne Weiteres „entlasten“. Eventuell bilden Organisationsverschulden und Übernahmeverschulden je eine Seite derselben Medaille.
Vor diesem Hintergrund ist es in gewisser Weise müßig, die im vorliegenden Fall festzustellenden Defizite im Hinblick auf Organisationsmängel und persönliches Fehlverhalten sowie eventuell auch „nur“ situative Umstände im Einzelfall differenzieren zu wollen. Die erläuternd mitgeteilten Begleitumstände (wie einerseits allgemeiner „Personalmangel“, aktuell „knappe Besetzung (wie oft)“ und „Zeitdruck“ sowie andererseits Einmaligkeit des Ereignisses) „entschuldigen“ juristisch nichts. Vielmehr bietet die Falldarstellung Veranlassung – was im Allgemeinen gilt –, das perioperative anästhesiologische Management insbesondere unter folgenden Aspekten zu überprüfen:
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Qualifikation der Behandelnden (Saalanästhesist/Pausenauslösung; Aufsicht, Hintergrunddienst)
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Fallbezogen adäquat umfängliche Prämedikation
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Anordnungen zu bzw. Vollzug von adäquaten „Übergaben“
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Einhaltung von Vorgaben zum Monitoring.
Können fachgebietliche „Mindestanforderungen“ etwa zur anästhesiologischen Patientenversorgung nicht erfüllt werden, fordert der BGH eine Reduktion des klinischen „Programms“: „Um ihren vertraglichen Pflichten nachzukommen und zum Schutz der Patienten, die sich in ihre (Klinik) begeben, hätte der Krankenhausträger dafür Sorge tragen müssen, dass in seiner Klinik nur Operationen ausgeführt wurden, die anästhesiologisch ordnungsgemäß betreut werden konnten. Solange er nicht genügend Anästhesisten für seine Klinik bekommen konnte, hätte er notfalls auf eine Ausweitung der chirurgischen Abteilung verzichten und weiter anordnen müssen, dass nach Erschöpfung der jeweiligen vorhandenen Kapazität die Patienten an andere Krankenhäuser zu verweisen seien“ (BGH NJW 1985, 2189 (2191 f.).
Vorstehend ausgeführte Forderung richtet sich an die Organisationszuständigen einer Klinik. Umgekehrt sind insbesondere die Behandelnden verpflichtet, auf unzureichende infrastrukturelle und prozessuale Gegebenheiten – eventuell auch eigene noch mangelnde fachliche Qualifikation – hinzuweisen (eine „Remonstration“ anzubringen), um entsprechende Behandlungsdefizite offenkundig werden zu lassen, damit für eine Behebung Sorge getragen werden kann.
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Eine strukturierte Patientenübergabe reduziert Wissensverlust.
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Eine Relaxometrie sollte ohne Ausnahme bei allen Anästhesien durchgeführt werden, wenn Muskelrelaxantien verabreicht werden. Die Durchführung der ersten Messung vor der Gabe des Muskelraxans erhöht die Aussagekraft späterer Messungen.
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Regelmäßige Überprüfungen des perioperativen anästhesiologischen Managements unter infrastrukturellen und prozessualen Aspekten, um (versteckte) Risiken zu detektieren und ggf. zu eliminieren.
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Weiterführende Literatur:
Autoren:
Prof. Dr. med. M. Hübler, Krankenhaus St.-Joseph-Stift, Dresden
Rechtsanwalt R.-W. Bock, Kanzlei Ulsenheimer-Friederich, Berlin
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
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