CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen
Entscheidung der Klinikhygieniker hat negative Auswirkungen auf Patientensicherheit
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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Entscheidung der Klinikhygieniker hat negative Auswirkungen auf Patientensicherheit
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis eingetreten:
Krankenhaus - ITS / IMC
Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag
Versorgungsart:
Notfall
ASA-Klassifizierung:
ASA IV
Patientenzustand:
Kritisch kranke, intubierte und beatmete Patienten.
Fallbeschreibung:
Auf Anweisung der Hygiene wurden die gefärbten Desinfektionsmittel von der Station verbannt, da die durchsichtigen Desinfektionsmittel eine Remanenzwirkung haben und daher theoretisch besser wirken.
Da aber nach Abwaschen die abgewaschene Stelle nicht mehr zu erkennen ist, erfolgt nun das Abkleben der Punktionsstelle nun häufig nicht mehr im sicher desinfizierten Bereich, so dass unsterile Hautareale unbeabsichtigt im Sterilfeld sind und die Anlage des ZVK dadurch insgesamt unsteril erfolgt.
Was war besonders ungünstig?
Entschiedener Widerspruch der Kliniker gegen die Abschaffung von gefärbten Desinfektionsmitteln wurde ignoriert. Die Entscheidung wurde auf Basis theoretischer Überlegungen getroffen, ohne sich den Prozess der Krankenversorgung vor Ort genau anzusehen.
Wo sehen Sie die Gründe für dieses Ereignis und wie hätte es vermieden werden können?
Engere Abstimmung mit behandelnden Ärzten.
Wie häufig tritt ein Ereignis dieser Art in Ihrer Abteilung auf?
täglich
Wer berichtet?
Ärztin / Arzt, Psychotherapeut/in
Die Analyse aus Sicht des Anästhesisten
Während eine desinfizierende Wirkung von klassischen Jod-/Alkohol-Desinfektionsmitteln nach dem Abtrocknen nicht mehr vorhanden ist, besitzen remanente Desinfektionsmittel die Fähigkeit, auch über den Auftragungsprozess hinaus eine Keimvermehrung zu unterdrücken (remanent = bleibend). Diese bleibende Wirkung ist dann besonders wichtig, wenn eine Eintrittspforte für Bakterien über einen längeren Zeitraum existiert.
Dass es sich bei der remanenten Wirkung nicht nur um eine theoretische Überlegung handelt, wurde in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt nachgewiesen. So war z.B. in einer Untersuchung, die Rate von ZVK-assoziierten Blutstrominfektionen 1,77 pro 1000 Anwendungstagen, wenn die Desinfektion mit einer Jod/Isopropanolol-Lösung durchgeführt worden war, und sank auf 0,28 pro 1000 Anwendungstage nach Desinfektion mit einer Chlorhexidin/Isopropanolol-Lösung [1]. Es handelt sich also – entgegen der Meinung der/des Meldenden – um keine theoretische, sondern um eine evidente Wirkung. Der Titel des Falls ist daher irreführend, denn die Anwendung eines remanenten Desinfektionsmittels erhöht die Patientensicherheit, denn sie hilft katheterassoziierte Infek-tionen zu reduzieren [2].
Auf Grund der eindeutigen Datenlage empfiehlt das Robert-Koch-Institut seit 2017 die Anwendung eines alkoholischen Antiseptikums mit einem remanenten Wirkstoff für die ZVK-Anlage auf Intensivstationen [3]. Vor kurzem wurde diese Empfehlung auch auf die chirurgische Hautdesinfektion ausgeweitet [4], da auch hier die Datenlage inzwischen eindeutig ist.
Typisch an der Meldung ist, dass Umstellungen von etablierten Verfahren erst einmal auf Widerstände stoßen. Die fehlende Farbe in dem Desinfektionsmittel wird als nachteilig gewertet. Bevor wir auf mögliche Lösungen eingehen, noch ein paar allgemeine Anmerkungen zu Veränderungsprozessen:
Die Senkung von katheterassoziierten Blutstrominfektionen kann eine Erfolgsgeschichte sein, aber dafür reicht es in der Regel nicht aus, nur das Desinfektionsmittel zu wechseln, sondern es umfasst zahlreiche Maßnahmen. Es beginnt natürlich mit der streng sterilen Anlage eines Katheters. Genauso wichtig ist aber der Umgang mit dem Katheter bei der Medikamentenapplikation und bei Blutentnahmen. Danach folgen Empfehlung zu dem Verbandswechsel und zuletzt – oft vergessen – die Begrenzung der Liegedauer. Die einzelnen Maßnahmen aufzulisten, würde den Rahmen dieser Analyse sprengen, weshalb wir auf einen sehr informativen und frei zugänglichen Übersichtsartikel verweisen [5].
Leider reicht es aber nicht aus, durch Verfahrensanweisungen und SOPs die einzelnen Schritte vorzuschreiben, denn die Erfahrung und diese CIRS-Meldung zeigen, dass die Umsetzung nur sehr zögerlich und oft nicht sehr nachhaltig erfolgt. Deshalb ist es genauso wichtig, den Prozess zu begleiten [6]. Die dazugehörigen Stichworte sind
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Ausbildung (Vermittlung des Problems, Schulungen mit Vorher-Nachher-Vergleich, Training am Simulator, etc.)
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Feedback (monatliche Information über Infektionsraten, etc.)
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Erinnerungshilfen (tägliche Frage nach der Indikation, etc.)
Ein solches Bündel an Maßnahmen ist wirksam. Idealerweise wird es kontinuierlich durch jemand Außenstehenden (z.B. Hygiene, QM, Infektiologen) begleitet.
Zurück zu dem Problem, das die Meldenden am meisten bewegt. Es wird die fehlende Farbe in dem neuen Desinfektionsmittel beklagt und befürchtet, dass das Areal deswegen u.U. nicht vollständig mit dem Mittel benetzt wird. In der Tat erleichtert die Farbe das korrekte Auftragen des Desinfektionsmittels. Der Effekt ist aber bei Patienten mit dunkler Hautfarbe meist nicht mehr vorhanden. Auch hier muss entsprechend nicht nur auf die Farbe geachtet werden. Das Argument ist deshalb nicht sehr überzeugend.
In Deutschland sind z. Zt. nur 2 remanente Desinfektionsmittel verfügbar: Chlorhexidin und Octenidin. Octenidin ist ein farbloses Produkt und wurde wahrscheinlich auch in dem Fall verwendet. Manche Anwendenden lösen das Problem der fehlenden Farbe, in dem sie zunächst mit einem klassischen Jod-/Alkohol-Desinfektionsmittel das Areal anfärben und anschließend 2x mit Octenidin abwaschen. Die 2-malige Anwendung ist erforderlich, da Octenidin durch die Jod-Alkohol-Lösung inaktiviert wird.
Die Kombination Chlorhexidin + Farbstoff wird nur von einem Hersteller angeboten und in einem Einwegapplikator geliefert. Ob die Einwegapplikatoren tatsächlich zu höheren Kosten führen, ist nicht unbedingt sicher, denn gleichzeitig wird ein steriles Abwaschset eingespart. Ähnliches gilt für die CO2-Bilanz, da auch hier der Energie- und Ressourcenverbrauch der Aufbereitung berücksichtigt werden muss.
Egal für welches Vorgehen man sich entscheidet, wichtig ist bei der Anwendung auf ein Trockenwischen zu verzichten, da dann der remanente Wirkstoff entfernt wird und keine Wirkung entfalten kann. Das Desinfizieren dauert länger als üblich und ist auch deswegen wahrscheinlich effektiver, da sonst nicht immer die erforderlichen 3 Minuten eingehalten werden.
Es gibt eine Regel, die immer gilt, wenn neue Verfahren, neue Technik oder neue Substanzen eingeführt werden: Ein Problem wird beseitigt und die entstehenden neuen Probleme, die unausweichlich sind, müssen erst (kennen-)gelernt werden. Allergien auf remanente Desinfektionsmittel sind keine Seltenheit und deshalb muss vor deren Anwendung explizit danach gefragt werden.
Zuletzt noch ein Aspekt, der die Desinfektion vor Lumbalpunktionen oder vor einer Spinalanästhesie betrifft: Zumindest für Chlorhexidin ist bekannt, dass selbst geringe Mengen, die in den Subarachnoidalraum eingebracht werden, zu einer adhesiven Arachnoiditis führen können. Dieses seltene Krankheitsbild tritt typischerweise erst mit einer zeitlichen Latenz auf, so dass der Zusammenhang mit der Desinfektion nicht immer offensichtlich sein muss. Wir empfehlen hier, auf remanente Desinfektionsmittel zu verzichten und auf eine Jod-Alkohol-Lösung zurückzugreifen.
Zusammenfassend halten wir die Entscheidung der Krankenhaushygiene für richtig. Sie folgt den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts, die auf überzeugenden Daten fußt. Welches Desinfektionsmittel das Krankenhaus wählt, muss individuell entschieden werden. Da die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts auch den OP-Saal betreffen, ist hier ein krankenhausweites Vorgehen sinnvoll.
Die Analyse aus Sicht des Juristen
Zum besseren Verständnis der Problemstellung ist im Ausgangspunkt eine gedankliche Differenzierung vorzunehmen:
Zum einen bedarf es einer möglichst sicheren Desinfektion des betroffenen Hautareals zur Durchführung einer (ZVK-) Punktion und zum anderen ist die korrekte Durchführung der Punktion (unter anderem offenbar innerhalb eines sicher desinfizierten Bereichs, der durch die Abdeckung markiert wird) geboten. Beide Maßnahmen müssen jeweils per se lege artis bzw. gemäß insoweit jeweils geltendem medizinischem Standard ausgeführt werden. Anders formuliert: Die Ausführung beider Maßnahmen muss mit zu gewährleistender Facharztqualität erfolgen.
Dabei mag sich der jeweils einzuhaltende Standard im Einzelfall betroffener Patienten unterschiedlich gestalten, nämlich z.B. ob es sich um einen Patienten mit (bekannter) oder ohne Allergie handelt bzw. ob eine ZVK-Anlage, eine Lumbalpunktion oder die Durchführung einer Spinalanästhesie in Rede steht (vgl. dazu die Analyse aus Sicht des Anästhesisten).
Wenn demgemäß zur Desinfektion ein Mittel mit remanenter Wirkung standardgemäß „indiziert“ ist, darf nicht aus Gründen (bloß) besserer Anschauung zur Abgrenzung von sterilem und unsterilem Hautareal auf ein Mittel ohne remanente Wirkung zurückgegriffen werden. Das angegebene Defizit schlechterer Anschauung zum (nicht) desinfizierten Bereichs bedarf dann gesteigerter Sorgfalt bzw. erforderlichenfalls der Behebung durch eine sonstige pragmatische Maßnahme. Im Ergebnis müssen „Schutz und Sicherheit des Patienten“ die „oberste Maxime“ bilden, wie in der Rechtsprechung des BGH gefordert wird. Die Vorteile von Desinfektionsmitteln mit remanenter Wirkung für Patienten, bei denen eine Anwendung indiziert ist, liegen laut Analyse aus Sicht des Anästhesisten auf der Hand. Resultiert aus der Anwendung eines demgemäß nicht indizierten Desinfektionsmittels kausal eine Schädigung des Patienten, können sich haftungs- und strafrechtliche Risiken verwirklichen.
Nun resultierte der modifizierte Einsatz von Desinfektionsmitteln im ausgeführten Fall offenbar aus Empfehlungen des Robert Koch-Instituts bzw. der KRINKO. Insofern stellt sich die Frage, welche Bedeutung solchen Empfehlungen zukommt.
Es ist zu berücksichtigen, dass § 23 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) die Einrichtung der KRINKO beim Robert Koch-Institut vorgibt, damit diese „Empfehlungen“ im vorliegenden Zusammenhang erstellt sowie stetig weiterentwickelt, und diese vom Robert Koch-Institut publiziert werden. Dabei ordnet § 23 Abs. 3 Satz 2 IfSG an, dass bezüglich Empfehlungen der KRINKO die Einhaltung des Standes der medizinischen Wissenschaft vermutet wird, wenn die jeweils geltenden Empfehlungen bei der Patientenbehandlung beachtet worden sind. Diese bzw. eine solche normative „Vermutung“ ist zwar widerleglich, jedoch müsste etwa anlässlich eines Rechtsstreits die Widerlegung wirklich beweiskräftig erfolgen. Mithin haben Empfehlungen der KRINKO grundsätzlich standardbildende Funktion.
Dagegen kann nicht argumentiert werden, es handele sich doch bloß um „Empfehlungen“. Dem stehen schon die ausgeführten normativen Anordnungen entgegen. Solche gelten analog etwa auch laut Transfusionsgesetz (TFG) bezüglich der „Richtlinie“ zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung von Blutprodukten (Richtlinie Hämotherapie) der Bundesärztekammer zum Stand der Erkenntnisse der medizinischen und zahnmedizinischen Wissenschaft und Technik samt der „Vermutung“ im Zusammenhang mit dessen Einhaltung im Behandlungsfall (vgl. § 12a Abs. 1 und Abs. 2 sowie § 18 Abs. 1 und Abs. 2 TFG).
Nebenher sei angemerkt, dass auch „Empfehlungen“ von medizinwissenschaftlichen Fachgesellschaften bzw. Berufsverbänden standardbildende Funktion zukommen kann. So hat sich rechtspraktisch gezeigt, dass z.B. die Empfehlung der Kommission für Normung und technische Sicherheit der DGAI zur Funktionsprüfung des Narkosegerätes zur Gewährleistung der Patientensicherheit (Anästh. Intensivmed 2019; 60:75-83) von Sachverständigen (inzwischen) als anästhesiologischer Standard charakterisiert wird. Ihre Nichteinhaltung ist behandlungsfehlerhaft mit potentiellen haftungs- und strafrechtlichen Konsequenzen.
Die Gegebenheit eines aktuell geltenden medizinischen bzw. insbesondere anästhesiologischen Standards wird im Übrigen nicht dergestalt in Frage gestellt, dass er eventuell (auch umfänglich) rein faktisch in der Praxis nicht eingehalten wird.
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Die Hautdesinfektion mit remanenten Desinfektionsmitteln wird vom Robert-Koch-Institut empfohlen und erhöht die Patientensicherheit.
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Die Anwendung remanenter Desinfektionsmittel unterscheidet sich von der von Jod-/Alkohol-Lösungen. Deshalb sollte die Umstellung geschult und begleitet werden.
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Auch im vorliegenden Zusammenhang von Desinfektionsmaßnahmen gilt, dass die Behandlung des Patienten gemäß aktuell geltendem medizinischem Standard zu erfolgen hat.Auch im vorliegenden Zusammenhang von Desinfektionsmaßnahmen gilt, dass die Behandlung des Patienten gemäß aktuell geltendem medizinischem Standard zu erfolgen hat.
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Weiterführende Literatur:
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[1] Mimoz O, Lucet J-C, Kerfone T, et al Lancet 2015; 386: 2069-77. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(15)00244-5
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[2] O’Grady NP. Prevention of central line-associated bloodstream infections. N Engl J Med 2023; 389): 1121-1131. https://doi.org/10.1056/NEJMra2213296
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[3] Prävention von Infektionen, die von Gefäßkathetern ausgehen. Teil 1 – Nichtgetunnelte zentralvenöse Katheter, Empfehlung der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) beim Robert Koch-Institut. Bundesgesundheitsbl 2017 60: 171–206. https://doi.org/10.1007/s00103-016-2487-4
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[4] Robert Koch Institut – Epidemiologisches Bulletin 6/2024 https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2024/Ausgaben/06_24.pdf?__blob=publicationFile
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[5] Ling ML, Apisarnthanarak A, Jaggi N, et al. APSIC guide for prevention of Central Line Associated Bloodstream Infections (CLABSI). Antimicrob Resist Infect Control 2016; 5: 16. https://doi.org/10.1186/s13756-016-0116-5
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[6] Blot K, Bergs J, Vogelaers D, etal. Prevention of central line-associated bloodstream infections through quality improvement interventions: a systematic review and meta-analysis. Clin Infect Dis. 2014; 59: 96-105. https://doi.org/10.1093/cid/ciu239
Autoren:
Prof. Dr. med. M. Hübler, Krankenhaus St.-Joseph-Stift, Dresden
Rechtanwalt R.-W. Bock, Ulsenheimer Rechtsanwälte, Berlin
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten, Nürnberg
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